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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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Aehnliches von aufgebauschter Hohlheit und Gewissenlosigkeit, in der kleinsten
Provinzialzeitung Deutschlands ist mehr Respect vor der Wahrheit und bei
weitem größere politische Bildung zu finden als seither in den tonangebenden
Blättern von Paris.

Aber noch auffallender als die Unkenntniß und Unwahrheit war in den
Pariser Zeitungen der 'Mangel an wahrem patriotischen Gefühl seit dem
Einbruch des Unheils, zumal seit dem Tage von Sedan. Wir Deutsche such¬
ten vergeblich hinter den Tiraden auch nur einen ehrlichen Ausdruck großen
Schmerzes, männlicher Trauer, nicht eine starke und reine Empfindung klang
aus allen Nummern, die von den Vorposten eingesandt wurden. Immer
dasselbe gespreizte, leere und kindische Gebahren. Selbst"Siecle", das vordem
Kriege eine Zeit lang höheren Ton angeschlagen hatte, suchte diesen Frevel
gegen die Eitelkeit eines bethörten Volkes dadurch zu sühnen, daß es nicht
weniger heftig radotirte als die übrigen Blätter. Nur das "Journal des
Debats" bewahrte eine ruhigere Haltung und bewies auch hier die Eigen¬
schaften, welche dasselbe in Frankreich zu dem Blatt der anständigen Leute
machen, kühle Reflexionen, gebildete Sprache und Mangel an Willen und an
Einfluß auf die öffentliche Meinung. Die tief liegenden Schäden des fran¬
zösischen Unterrichts und der französischen Bildung sind uns in dem Gebaren
der Pariser Presse plötzlich sehr auffällig geworden, sie sind das Leiden der
Franzosen, welches eine Erhebung dieses kranken Volksthums recht hoffnungs"
arm macht. König Louis Philipp war durch die Journalisten der Pariser
Presse entthront worden, Kaiser Napoleon wurde unablässig der Corruption
und Tyrannei angeklagt, weil er durch Polizeilist und Gewalt dieselbe Ge¬
fahr von sich abwenden wollte. Die Klage war, was sein System betrifft,
wohlberechtigt. Als aber in diesem Jahr der Zwang von der Presse genom¬
men wurde, hat sie sich weit perfider, unwahrer und abenteuerlicher gezeigt,
als das kaiserliche Regiment in seinen schnödesten Maßregeln gewesen ist
Und auch die Entschuldigung kommt ihr nicht zu Gute, daß sie schlecht ge¬
worden ist durch schlechte Behandlung und Verführung, denn ihr Unsinn ist
älter als das letzte Kaiserreich.

Wir Alle empfinden als sittliche Nothwendigkeit in der Geschichte, daß
nicht wiederkehren darf, was in seiner Einseitigkeit als Unrecht erwiesen und
durch den großen Gang der Ereignisse widerlegt ist. Aber die Geschichte
verläuft nicht nach den Gesetzen einer menschlichen Tragödie. Auch der
Jesuitenorden galt einmal für völlig beseitigt, unter der Last seiner Misse¬
thaten begraben, und er war kurze Jahre darauf wieder da und lächelte ver¬
lockender als ehedem den Gläubigen zu. Jetzt sträubt sich unsere ganze Em¬
pfindung anzunehmen, daß Napoleon III. und seine Dynastie in Frankreich
noch einmal zur Herrschaft kommen. Und ebenso unmöglich dünkt dasselbe


Aehnliches von aufgebauschter Hohlheit und Gewissenlosigkeit, in der kleinsten
Provinzialzeitung Deutschlands ist mehr Respect vor der Wahrheit und bei
weitem größere politische Bildung zu finden als seither in den tonangebenden
Blättern von Paris.

Aber noch auffallender als die Unkenntniß und Unwahrheit war in den
Pariser Zeitungen der 'Mangel an wahrem patriotischen Gefühl seit dem
Einbruch des Unheils, zumal seit dem Tage von Sedan. Wir Deutsche such¬
ten vergeblich hinter den Tiraden auch nur einen ehrlichen Ausdruck großen
Schmerzes, männlicher Trauer, nicht eine starke und reine Empfindung klang
aus allen Nummern, die von den Vorposten eingesandt wurden. Immer
dasselbe gespreizte, leere und kindische Gebahren. Selbst„Siecle", das vordem
Kriege eine Zeit lang höheren Ton angeschlagen hatte, suchte diesen Frevel
gegen die Eitelkeit eines bethörten Volkes dadurch zu sühnen, daß es nicht
weniger heftig radotirte als die übrigen Blätter. Nur das „Journal des
Debats" bewahrte eine ruhigere Haltung und bewies auch hier die Eigen¬
schaften, welche dasselbe in Frankreich zu dem Blatt der anständigen Leute
machen, kühle Reflexionen, gebildete Sprache und Mangel an Willen und an
Einfluß auf die öffentliche Meinung. Die tief liegenden Schäden des fran¬
zösischen Unterrichts und der französischen Bildung sind uns in dem Gebaren
der Pariser Presse plötzlich sehr auffällig geworden, sie sind das Leiden der
Franzosen, welches eine Erhebung dieses kranken Volksthums recht hoffnungs«
arm macht. König Louis Philipp war durch die Journalisten der Pariser
Presse entthront worden, Kaiser Napoleon wurde unablässig der Corruption
und Tyrannei angeklagt, weil er durch Polizeilist und Gewalt dieselbe Ge¬
fahr von sich abwenden wollte. Die Klage war, was sein System betrifft,
wohlberechtigt. Als aber in diesem Jahr der Zwang von der Presse genom¬
men wurde, hat sie sich weit perfider, unwahrer und abenteuerlicher gezeigt,
als das kaiserliche Regiment in seinen schnödesten Maßregeln gewesen ist
Und auch die Entschuldigung kommt ihr nicht zu Gute, daß sie schlecht ge¬
worden ist durch schlechte Behandlung und Verführung, denn ihr Unsinn ist
älter als das letzte Kaiserreich.

Wir Alle empfinden als sittliche Nothwendigkeit in der Geschichte, daß
nicht wiederkehren darf, was in seiner Einseitigkeit als Unrecht erwiesen und
durch den großen Gang der Ereignisse widerlegt ist. Aber die Geschichte
verläuft nicht nach den Gesetzen einer menschlichen Tragödie. Auch der
Jesuitenorden galt einmal für völlig beseitigt, unter der Last seiner Misse¬
thaten begraben, und er war kurze Jahre darauf wieder da und lächelte ver¬
lockender als ehedem den Gläubigen zu. Jetzt sträubt sich unsere ganze Em¬
pfindung anzunehmen, daß Napoleon III. und seine Dynastie in Frankreich
noch einmal zur Herrschaft kommen. Und ebenso unmöglich dünkt dasselbe


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/12>, abgerufen am 03.01.2025.