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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Honckliloet's Geschichte der altniederländischen Literatur.
(Schluß zu voriger Ur.)

In Deutschland ist von Sebastian Braut, dem grundgelehrten Huma-
nisten und Romanisten, bis zu seinem ebenso gelehrten hundert Jahre jünge¬
ren Landsmann und Fachgenossen Johann Fischart eine lange Reihe
vermittelnder Erscheinungen aufzuzählen, darunter Talente ersten Ranges.
So sehr sie aber auch ihre Zeitgenossen augenblicklich befriedigten, so schei¬
terten sie doch alle an der innern Unverträglichkeit der Gegensätze, die sie
vermitteln wollten. Sie verloren mehr und mehr die Fühlung mit dem
eigentlichen Volksgeist, weil ihre eigene Bildung sie einstweilen noch nicht zu
selbständigem Wiedererzeugen des antiken Geistes, sondern nur zu seiner
schülerhaften Reproduktion befähigte, sie genügten aber auch dem ähnlich wie
sie selbst gebildeten Theile des Publikums nicht, dem die volkstümliche Ader
in ihnen als eine bloss Rohheit erschien. Damit vollzog sich von innen
heraus der völlige Untergang der mittelalterlichen Literatur: es trat ein
neues Geschlecht von Schriftstellern auf die Bühne, weil das alte Publikum
ausstarb oder sich zersplitterte. Und so würde man bei einer Periodisirung
der Literaturgeschichte mit viel größerem Rechte die entscheidende Epoche des
vollständigen Endes der mittelalterlichen Literatur an den Schluß des 16.
als, wie es häufig geschieht, an den Schluß des 16, verlegen.

Was für ganz Deutschland gilt, gilt auch für die Niederlande, nur daß
sich hier der Eintritt der neuen Literatur von Gelehrten für Gebildete etwas
früher vollzog als dort, weil sich hier das ganze Volksleben wegen der äuße¬
ren Weltstellung des Landes und wegen seiner socialen Verhältnisse in rasche¬
rem Fluße befand. Denn seit dem 14. Jahrh, waren die Niederlande ohne
Zweifel immer je um 30--60 Jahre den entsprechenden Gestaltungen des
eigentlichen Deutschlands voran, wie sie diesem auch an Reichthum und äuße¬
rer Cultur ungefähr in demselben Maßstabe voraneilten. Daher konnte es
geschehen, daß am Ende des 16. Jahrhunderts die schon durchgesetzte neue
niederländische gelehrte Literatur einen bestimmenden Einfluß auf die gleich¬
artigen Bestrebungen in Deutschland üben konnte, während früher nur Ein¬
zelnes und dann auf ganz naive Weise von dorther zu uns vordrang, so der
niederdeutsche Reineke Vos. der nichts weiter als eine Umschreibung des
etwas älteren niederländischen Reinaert in seiner späteren Fassung aus dem
niederrhetnischen oder vlaemischen Deutschen in das der Ostseeküste ist, oder
auch, wenn der größte poetische Genius des damaligen Deutschlands, Fischart,


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Honckliloet's Geschichte der altniederländischen Literatur.
(Schluß zu voriger Ur.)

In Deutschland ist von Sebastian Braut, dem grundgelehrten Huma-
nisten und Romanisten, bis zu seinem ebenso gelehrten hundert Jahre jünge¬
ren Landsmann und Fachgenossen Johann Fischart eine lange Reihe
vermittelnder Erscheinungen aufzuzählen, darunter Talente ersten Ranges.
So sehr sie aber auch ihre Zeitgenossen augenblicklich befriedigten, so schei¬
terten sie doch alle an der innern Unverträglichkeit der Gegensätze, die sie
vermitteln wollten. Sie verloren mehr und mehr die Fühlung mit dem
eigentlichen Volksgeist, weil ihre eigene Bildung sie einstweilen noch nicht zu
selbständigem Wiedererzeugen des antiken Geistes, sondern nur zu seiner
schülerhaften Reproduktion befähigte, sie genügten aber auch dem ähnlich wie
sie selbst gebildeten Theile des Publikums nicht, dem die volkstümliche Ader
in ihnen als eine bloss Rohheit erschien. Damit vollzog sich von innen
heraus der völlige Untergang der mittelalterlichen Literatur: es trat ein
neues Geschlecht von Schriftstellern auf die Bühne, weil das alte Publikum
ausstarb oder sich zersplitterte. Und so würde man bei einer Periodisirung
der Literaturgeschichte mit viel größerem Rechte die entscheidende Epoche des
vollständigen Endes der mittelalterlichen Literatur an den Schluß des 16.
als, wie es häufig geschieht, an den Schluß des 16, verlegen.

Was für ganz Deutschland gilt, gilt auch für die Niederlande, nur daß
sich hier der Eintritt der neuen Literatur von Gelehrten für Gebildete etwas
früher vollzog als dort, weil sich hier das ganze Volksleben wegen der äuße¬
ren Weltstellung des Landes und wegen seiner socialen Verhältnisse in rasche¬
rem Fluße befand. Denn seit dem 14. Jahrh, waren die Niederlande ohne
Zweifel immer je um 30—60 Jahre den entsprechenden Gestaltungen des
eigentlichen Deutschlands voran, wie sie diesem auch an Reichthum und äuße¬
rer Cultur ungefähr in demselben Maßstabe voraneilten. Daher konnte es
geschehen, daß am Ende des 16. Jahrhunderts die schon durchgesetzte neue
niederländische gelehrte Literatur einen bestimmenden Einfluß auf die gleich¬
artigen Bestrebungen in Deutschland üben konnte, während früher nur Ein¬
zelnes und dann auf ganz naive Weise von dorther zu uns vordrang, so der
niederdeutsche Reineke Vos. der nichts weiter als eine Umschreibung des
etwas älteren niederländischen Reinaert in seiner späteren Fassung aus dem
niederrhetnischen oder vlaemischen Deutschen in das der Ostseeküste ist, oder
auch, wenn der größte poetische Genius des damaligen Deutschlands, Fischart,


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[0519] Honckliloet's Geschichte der altniederländischen Literatur. (Schluß zu voriger Ur.) In Deutschland ist von Sebastian Braut, dem grundgelehrten Huma- nisten und Romanisten, bis zu seinem ebenso gelehrten hundert Jahre jünge¬ ren Landsmann und Fachgenossen Johann Fischart eine lange Reihe vermittelnder Erscheinungen aufzuzählen, darunter Talente ersten Ranges. So sehr sie aber auch ihre Zeitgenossen augenblicklich befriedigten, so schei¬ terten sie doch alle an der innern Unverträglichkeit der Gegensätze, die sie vermitteln wollten. Sie verloren mehr und mehr die Fühlung mit dem eigentlichen Volksgeist, weil ihre eigene Bildung sie einstweilen noch nicht zu selbständigem Wiedererzeugen des antiken Geistes, sondern nur zu seiner schülerhaften Reproduktion befähigte, sie genügten aber auch dem ähnlich wie sie selbst gebildeten Theile des Publikums nicht, dem die volkstümliche Ader in ihnen als eine bloss Rohheit erschien. Damit vollzog sich von innen heraus der völlige Untergang der mittelalterlichen Literatur: es trat ein neues Geschlecht von Schriftstellern auf die Bühne, weil das alte Publikum ausstarb oder sich zersplitterte. Und so würde man bei einer Periodisirung der Literaturgeschichte mit viel größerem Rechte die entscheidende Epoche des vollständigen Endes der mittelalterlichen Literatur an den Schluß des 16. als, wie es häufig geschieht, an den Schluß des 16, verlegen. Was für ganz Deutschland gilt, gilt auch für die Niederlande, nur daß sich hier der Eintritt der neuen Literatur von Gelehrten für Gebildete etwas früher vollzog als dort, weil sich hier das ganze Volksleben wegen der äuße¬ ren Weltstellung des Landes und wegen seiner socialen Verhältnisse in rasche¬ rem Fluße befand. Denn seit dem 14. Jahrh, waren die Niederlande ohne Zweifel immer je um 30—60 Jahre den entsprechenden Gestaltungen des eigentlichen Deutschlands voran, wie sie diesem auch an Reichthum und äuße¬ rer Cultur ungefähr in demselben Maßstabe voraneilten. Daher konnte es geschehen, daß am Ende des 16. Jahrhunderts die schon durchgesetzte neue niederländische gelehrte Literatur einen bestimmenden Einfluß auf die gleich¬ artigen Bestrebungen in Deutschland üben konnte, während früher nur Ein¬ zelnes und dann auf ganz naive Weise von dorther zu uns vordrang, so der niederdeutsche Reineke Vos. der nichts weiter als eine Umschreibung des etwas älteren niederländischen Reinaert in seiner späteren Fassung aus dem niederrhetnischen oder vlaemischen Deutschen in das der Ostseeküste ist, oder auch, wenn der größte poetische Genius des damaligen Deutschlands, Fischart, 66*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/519>, abgerufen am 27.07.2024.