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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Die deutschen Westgrcnzen.
1. Ob und warum Annexion.

Der Krieg ist der Vater der Dinge, sagt der alte Heraklit; welcher
Dinge Bater wird er diesmal werden? So fragen sich Millionen Herzen,
von Hoffnung und Besorgniß ruhelos bewegt. Ich denke, seine besten Kinder
wären die, welche der blutigen Gewaltherrschaft des Vaters ein für allemal
ein Ende bereiteten. Kein anderes Ziel verfolgen ja auch laut den ernsten,
ergreifenden Worten König Wilhelm's in der Thronrede vom 19. Juli die
Leiter unserer Geschicke, als das, den Frieden Europas dauernd zu sichern.
Wer wollte ihrer bewährten Weisheit nicht vertrauen, daß sie die besten
Wege einschlagen werde, es zu erreichen; wer von uns aus dem Volke wollte
ihr Maß geben, vor deren Blicken aus Vergangenheit und Gegenwart so
manches offen daliegt, was uns verborgen ist? Wie es aber für alle Poli¬
tik der Regierungen keine festere Stütze gibt, als die befriedigte Zustimmung
ihrer Völker, so dürfen, ja sollen doch auch wir von vorn herein über un¬
sere Wünsche uns klar werden, mit der Mäßigung, die uns eigen ist, sie von
den Ueberspannungen der ersten, wenn auch gerechten Aufwallung reinigen,
um sie dann, wenn wir sie unter uns sorgfältig erörtert haben, mit Beschei¬
denheit zu äußern. Zu einer solchen ruhigen Erörterung einen kleinen Bei¬
trag zu liefern, ist der einzige Anspruch, den die folgenden Betrachtungen
erheben.

Der Friede Europas! -- mit Recht setzt die Thronrede diesen großarti¬
gen Ausdruck als gleichbedeutend mit der Nöthigung Frankreichs, Frieden zu
halten. Schon einmal, nach dem Sturze des ersten Kaiserreichs, in den beiden
Pariser Friedensschlüssen wie auf dem Wiener Congresse hat man daran ge¬
arbeitet, durch gewaltsame Befriedung Frankreichs die Ruhe des Erdtheils
zu begründen. Die Schöpfung des durch Belgien ungeschickt vergrößerten
niederländischen Königreichs, die Neutralisirung der Schweiz, die Verstärkung
des sardinischen Staates waren Maßregeln in diesem Sinne; ja die Grün¬
dung der heiligen Allianz selbst ward wenigstens von den Franzosen in
gleicher Weise als eine drohende Warnung vor wiederholten Uebergriffen
ihrerseits aufgefaßt. Auch durch die Wiederherstellung der Bourbonen glaub¬
ten die Verbündeten dem nämlichen Zwecke zu dienen. All diese Mittel
haben sich theils als unzulänglich, theils als völlig verkehrt erwiesen; statt
abzuschrecken, haben sie eher gereizt; nicht ihnen war es zu verdanken, daß
wir wirklich eine lange Zeit der Ruhe genossen, vielmehr lediglich der
Schwächung Frankreichs, welche der Krieg selber geschaffen, nicht der Friede.


Die deutschen Westgrcnzen.
1. Ob und warum Annexion.

Der Krieg ist der Vater der Dinge, sagt der alte Heraklit; welcher
Dinge Bater wird er diesmal werden? So fragen sich Millionen Herzen,
von Hoffnung und Besorgniß ruhelos bewegt. Ich denke, seine besten Kinder
wären die, welche der blutigen Gewaltherrschaft des Vaters ein für allemal
ein Ende bereiteten. Kein anderes Ziel verfolgen ja auch laut den ernsten,
ergreifenden Worten König Wilhelm's in der Thronrede vom 19. Juli die
Leiter unserer Geschicke, als das, den Frieden Europas dauernd zu sichern.
Wer wollte ihrer bewährten Weisheit nicht vertrauen, daß sie die besten
Wege einschlagen werde, es zu erreichen; wer von uns aus dem Volke wollte
ihr Maß geben, vor deren Blicken aus Vergangenheit und Gegenwart so
manches offen daliegt, was uns verborgen ist? Wie es aber für alle Poli¬
tik der Regierungen keine festere Stütze gibt, als die befriedigte Zustimmung
ihrer Völker, so dürfen, ja sollen doch auch wir von vorn herein über un¬
sere Wünsche uns klar werden, mit der Mäßigung, die uns eigen ist, sie von
den Ueberspannungen der ersten, wenn auch gerechten Aufwallung reinigen,
um sie dann, wenn wir sie unter uns sorgfältig erörtert haben, mit Beschei¬
denheit zu äußern. Zu einer solchen ruhigen Erörterung einen kleinen Bei¬
trag zu liefern, ist der einzige Anspruch, den die folgenden Betrachtungen
erheben.

Der Friede Europas! — mit Recht setzt die Thronrede diesen großarti¬
gen Ausdruck als gleichbedeutend mit der Nöthigung Frankreichs, Frieden zu
halten. Schon einmal, nach dem Sturze des ersten Kaiserreichs, in den beiden
Pariser Friedensschlüssen wie auf dem Wiener Congresse hat man daran ge¬
arbeitet, durch gewaltsame Befriedung Frankreichs die Ruhe des Erdtheils
zu begründen. Die Schöpfung des durch Belgien ungeschickt vergrößerten
niederländischen Königreichs, die Neutralisirung der Schweiz, die Verstärkung
des sardinischen Staates waren Maßregeln in diesem Sinne; ja die Grün¬
dung der heiligen Allianz selbst ward wenigstens von den Franzosen in
gleicher Weise als eine drohende Warnung vor wiederholten Uebergriffen
ihrerseits aufgefaßt. Auch durch die Wiederherstellung der Bourbonen glaub¬
ten die Verbündeten dem nämlichen Zwecke zu dienen. All diese Mittel
haben sich theils als unzulänglich, theils als völlig verkehrt erwiesen; statt
abzuschrecken, haben sie eher gereizt; nicht ihnen war es zu verdanken, daß
wir wirklich eine lange Zeit der Ruhe genossen, vielmehr lediglich der
Schwächung Frankreichs, welche der Krieg selber geschaffen, nicht der Friede.


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[0407] Die deutschen Westgrcnzen. 1. Ob und warum Annexion. Der Krieg ist der Vater der Dinge, sagt der alte Heraklit; welcher Dinge Bater wird er diesmal werden? So fragen sich Millionen Herzen, von Hoffnung und Besorgniß ruhelos bewegt. Ich denke, seine besten Kinder wären die, welche der blutigen Gewaltherrschaft des Vaters ein für allemal ein Ende bereiteten. Kein anderes Ziel verfolgen ja auch laut den ernsten, ergreifenden Worten König Wilhelm's in der Thronrede vom 19. Juli die Leiter unserer Geschicke, als das, den Frieden Europas dauernd zu sichern. Wer wollte ihrer bewährten Weisheit nicht vertrauen, daß sie die besten Wege einschlagen werde, es zu erreichen; wer von uns aus dem Volke wollte ihr Maß geben, vor deren Blicken aus Vergangenheit und Gegenwart so manches offen daliegt, was uns verborgen ist? Wie es aber für alle Poli¬ tik der Regierungen keine festere Stütze gibt, als die befriedigte Zustimmung ihrer Völker, so dürfen, ja sollen doch auch wir von vorn herein über un¬ sere Wünsche uns klar werden, mit der Mäßigung, die uns eigen ist, sie von den Ueberspannungen der ersten, wenn auch gerechten Aufwallung reinigen, um sie dann, wenn wir sie unter uns sorgfältig erörtert haben, mit Beschei¬ denheit zu äußern. Zu einer solchen ruhigen Erörterung einen kleinen Bei¬ trag zu liefern, ist der einzige Anspruch, den die folgenden Betrachtungen erheben. Der Friede Europas! — mit Recht setzt die Thronrede diesen großarti¬ gen Ausdruck als gleichbedeutend mit der Nöthigung Frankreichs, Frieden zu halten. Schon einmal, nach dem Sturze des ersten Kaiserreichs, in den beiden Pariser Friedensschlüssen wie auf dem Wiener Congresse hat man daran ge¬ arbeitet, durch gewaltsame Befriedung Frankreichs die Ruhe des Erdtheils zu begründen. Die Schöpfung des durch Belgien ungeschickt vergrößerten niederländischen Königreichs, die Neutralisirung der Schweiz, die Verstärkung des sardinischen Staates waren Maßregeln in diesem Sinne; ja die Grün¬ dung der heiligen Allianz selbst ward wenigstens von den Franzosen in gleicher Weise als eine drohende Warnung vor wiederholten Uebergriffen ihrerseits aufgefaßt. Auch durch die Wiederherstellung der Bourbonen glaub¬ ten die Verbündeten dem nämlichen Zwecke zu dienen. All diese Mittel haben sich theils als unzulänglich, theils als völlig verkehrt erwiesen; statt abzuschrecken, haben sie eher gereizt; nicht ihnen war es zu verdanken, daß wir wirklich eine lange Zeit der Ruhe genossen, vielmehr lediglich der Schwächung Frankreichs, welche der Krieg selber geschaffen, nicht der Friede.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/407>, abgerufen am 27.07.2024.