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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Der Hergang war in einer Correspondenz aus Petersburg so erzählt, wie
er in der Hauptstadt von Mund zu Munde ging; Bürgschaft für die Wahr¬
heit wollte der Correspondent natürlich nicht übernehmen. Wer vermöchte
das auch in Rußland, wo selbst ein angeblicher englischer Emissär, der eigens
zur Erforschung der Umtriebe im Innern angewiesen war, so wenig und so
Formloses zu Tage bringt, wie man es in Mittheilungen der Tagespresse
lesen konnte. Nach vielen ebenso unbestimmten Nachrichten über eine an¬
geblich entdeckte Verschwörung bricht zuerst das katholische Organ das vor¬
her von sämmtlichen russischen Blättern beobachtete Schweigen. Es erwähnt
einer revolutionären Proclamation, die schon im August v.J. von Gensaus
in Rußland verbreitet gewesen, und in der die im Auslande lebenden russi¬
schen Emigranten aufgefordert worden seien, sich als Emissäre nach Rußland
zu begeben, um dort unter dem Landvolk für die Zwecke der Revolution zu
wirken. Verfasser und Verbreiter dieser Proclamation sei der Petersburger
Student Netsch "je ff gewesen, der nach den Studentenexcessen im vorigen
Jahre nach der Schweiz entflohen sei und sich in Genf an Bakunin angeschlossen
habe. Netschajeff sei im vorigen Herbst in Rußland gewesen, wovon man
sichere Beweise in Händen habe, ja es sei wahrscheinlich, daß er sich irgendwo
noch versteckt dort aufhalte. Auch eine Proscriptionsliste soll aus Genf ver¬
breitet worden sein, welche die Namen der zu ermordenden Feinde der Revo¬
lution enthielt. Eine von Bakunin selbst unterzeichnete Proclamation "An die
jungen Brüder in Rußland", lautet: "Für uns Russen und die Mehrzahl
der polnischen Patrioten, namentlich die katholische Adelspartei, der die rus¬
sische Tagespresse den größten Einfluß auf unsere Jugend zuschreibt, gibt es
nur ein gemeinsames Gefühl und Ziel: Haß gegen den Alles verschlin¬
genden russischen Staat und der feste Entschluß, mir allen Mitteln die
schleunigste Zertrümmerung desselben herbeizuführen. In diesem Punkte
treffen wir zusammen. Einen Schritt weiter und ein tiefer Abgrund thut
sich zwischen uns auf. Wir erstreben die gänzliche Aufhebung alles Staats¬
lebens in und außerhalb Rußlands (daher die Bezeichnung: Nihilisten),
während die Polen von dem Wiederaufbau des polnischen Staates träumen.
Die Träume der polnischen Staatsmänner sind schädlich, denn jedes Staats¬
wesen, und wäre es noch so demokratisch und liberal, lastet mit Centner¬
schwere auf dem Volksleben. Dieselben lassen sich aber auch unmöglich ver¬
wirklichen, da es die Aufgabe der Zukunft ist, die Staaten zu zertrümmern,
nicht aufzubauen. Die polnischen Politiker verurtheilen durch ihre dem Volke
verhaßten Träume ihr Vaterland zu neuem Verderben, und sollte es ihnen
gelingen, den polnischen Staat auf den Grundlagen der Adelsprivilegien und
des persönlichen und erblichen Grundeigenthums wieder aufzubauen, so wür¬
den sie insofern unsere Feinde werden, als sie die Unterdrücker des eigenen


Gran,boten III. 1870. 3

Der Hergang war in einer Correspondenz aus Petersburg so erzählt, wie
er in der Hauptstadt von Mund zu Munde ging; Bürgschaft für die Wahr¬
heit wollte der Correspondent natürlich nicht übernehmen. Wer vermöchte
das auch in Rußland, wo selbst ein angeblicher englischer Emissär, der eigens
zur Erforschung der Umtriebe im Innern angewiesen war, so wenig und so
Formloses zu Tage bringt, wie man es in Mittheilungen der Tagespresse
lesen konnte. Nach vielen ebenso unbestimmten Nachrichten über eine an¬
geblich entdeckte Verschwörung bricht zuerst das katholische Organ das vor¬
her von sämmtlichen russischen Blättern beobachtete Schweigen. Es erwähnt
einer revolutionären Proclamation, die schon im August v.J. von Gensaus
in Rußland verbreitet gewesen, und in der die im Auslande lebenden russi¬
schen Emigranten aufgefordert worden seien, sich als Emissäre nach Rußland
zu begeben, um dort unter dem Landvolk für die Zwecke der Revolution zu
wirken. Verfasser und Verbreiter dieser Proclamation sei der Petersburger
Student Netsch «je ff gewesen, der nach den Studentenexcessen im vorigen
Jahre nach der Schweiz entflohen sei und sich in Genf an Bakunin angeschlossen
habe. Netschajeff sei im vorigen Herbst in Rußland gewesen, wovon man
sichere Beweise in Händen habe, ja es sei wahrscheinlich, daß er sich irgendwo
noch versteckt dort aufhalte. Auch eine Proscriptionsliste soll aus Genf ver¬
breitet worden sein, welche die Namen der zu ermordenden Feinde der Revo¬
lution enthielt. Eine von Bakunin selbst unterzeichnete Proclamation „An die
jungen Brüder in Rußland", lautet: „Für uns Russen und die Mehrzahl
der polnischen Patrioten, namentlich die katholische Adelspartei, der die rus¬
sische Tagespresse den größten Einfluß auf unsere Jugend zuschreibt, gibt es
nur ein gemeinsames Gefühl und Ziel: Haß gegen den Alles verschlin¬
genden russischen Staat und der feste Entschluß, mir allen Mitteln die
schleunigste Zertrümmerung desselben herbeizuführen. In diesem Punkte
treffen wir zusammen. Einen Schritt weiter und ein tiefer Abgrund thut
sich zwischen uns auf. Wir erstreben die gänzliche Aufhebung alles Staats¬
lebens in und außerhalb Rußlands (daher die Bezeichnung: Nihilisten),
während die Polen von dem Wiederaufbau des polnischen Staates träumen.
Die Träume der polnischen Staatsmänner sind schädlich, denn jedes Staats¬
wesen, und wäre es noch so demokratisch und liberal, lastet mit Centner¬
schwere auf dem Volksleben. Dieselben lassen sich aber auch unmöglich ver¬
wirklichen, da es die Aufgabe der Zukunft ist, die Staaten zu zertrümmern,
nicht aufzubauen. Die polnischen Politiker verurtheilen durch ihre dem Volke
verhaßten Träume ihr Vaterland zu neuem Verderben, und sollte es ihnen
gelingen, den polnischen Staat auf den Grundlagen der Adelsprivilegien und
des persönlichen und erblichen Grundeigenthums wieder aufzubauen, so wür¬
den sie insofern unsere Feinde werden, als sie die Unterdrücker des eigenen


Gran,boten III. 1870. 3
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/25>, abgerufen am 27.07.2024.