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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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ihr zu Gebote stehenden gesetzlichen Mittel gegen sie in Anwendung zu brin¬
gen ; nicht aus übergroßer Empfindlichkeit, sondern weil die Preßfreiheit mit
der französischen Staatsidee in Widerspruch steht.

In Frankreich nämlich, dem Lande der Verstandesconstructionen, tritt
stets dem System das System gegenüber, jedes System mit dem Anspruch
auf unbedingte Herrschaft, und stets zu politischen Handstreichen bereit, zu
denen die Aussicht, durch einen Erfolg in Paris das ganze centralistische
Staatswesen in ihre Gewalt zu bringen, die Parteiführer nur allzu leicht
verlockt. Nicht reich an Ideen, ist der Franzose Meister darin, die Ideen,
die er sich angeeignet hat, bis in ihre äußersten Grenzen zu verfolgen, mit
mathematischer Folgerichtigkeit, aber ohne Rücksicht auf die Natur der Dinge:
er ist, gleichviel welcher Richtung er angehört, stets radicaler Doctrinär, und
daher, sobald er sich in der Opposition befindet, revolutionär. Sich dem
herrschenden System anzubequemen, um seine Fehler zu verbessern, das ist
nicht seine Sache, scheint ihm niemals der Mühe zu lohnen. Versucht er es,
so wird er meist ein Opfer dieses Versuches, wie es Ollivier ergangen ist.
Weit leichter wird es ihm -- Billault ist ein Beispiel davon -- von einem
Extreme ohne Vermittelung zum andern überzuspringen; gewiß nicht immer
aus Gesinnungslosigkeit, sondern oft aus Unfähigkeit, sich außerhalb eines
fertigen Systems zu bewegen.

Dieser doctrinäre Radicalismus, der außer wo es sich um vorüberge¬
hende Coalitionen, meist zum Zwecke gemeinsamer Opposition handelt, jeden
Compromiß verschiedener Ansichten, verschiedener Parteien ausschließt, spiegelt
sich aufs treueste in der Tagespresse ab. und Tarile Delord hat daher nicht ganz
Unrecht, wenn er die Verantwortung für die Ausschreitungen der Presse auf
die Parteien abwälzt, deren Organ die Zeitungen sind. Aber es ist anderer¬
seits unbestreitbar, daß in der Presse die Excentricitäten der Parteien ihre
schärfste Gestalt annehmen. Die Presse ist systematisch rücksichtslos, um die
Logik ihrer Leser zu befriedigen; sie greift den Gegner mit allen Waffen des
Pathos und des schärfsten Spottes an, sie versetzt täglich ihren Leser bald
in den heftigsten Affect, bald reizt sie seine Lachlust, die in Frankreich nicht
immer ungefährlich ist. Verführe sie anders, so würde sie dem an starke
Kost nun einmal gewöhnten Publicum langweilig und fade erscheinen. Und
somit, mag die Presse immer einen Theil ihrer Schuld den Anforderungen
des Publicums und der Parteien zur Last legen, der Vorwurf bleibt auf
ihr haften, daß sie, wie ein Schauspieldirector, der auf den verdorbenen
Geschmach des Publicums speculirt -- von wenigen besonnenen Blättern,
wie das Journal des Debats und die Revue contemporaire abgesehen -- aus
Schwäche, Eigennutz und Leidenschaft den Parteien in aller Maßlosigkeit vor¬
angegangen ist und selten auch nur den Versuch gewagt hat, eine feste


ihr zu Gebote stehenden gesetzlichen Mittel gegen sie in Anwendung zu brin¬
gen ; nicht aus übergroßer Empfindlichkeit, sondern weil die Preßfreiheit mit
der französischen Staatsidee in Widerspruch steht.

In Frankreich nämlich, dem Lande der Verstandesconstructionen, tritt
stets dem System das System gegenüber, jedes System mit dem Anspruch
auf unbedingte Herrschaft, und stets zu politischen Handstreichen bereit, zu
denen die Aussicht, durch einen Erfolg in Paris das ganze centralistische
Staatswesen in ihre Gewalt zu bringen, die Parteiführer nur allzu leicht
verlockt. Nicht reich an Ideen, ist der Franzose Meister darin, die Ideen,
die er sich angeeignet hat, bis in ihre äußersten Grenzen zu verfolgen, mit
mathematischer Folgerichtigkeit, aber ohne Rücksicht auf die Natur der Dinge:
er ist, gleichviel welcher Richtung er angehört, stets radicaler Doctrinär, und
daher, sobald er sich in der Opposition befindet, revolutionär. Sich dem
herrschenden System anzubequemen, um seine Fehler zu verbessern, das ist
nicht seine Sache, scheint ihm niemals der Mühe zu lohnen. Versucht er es,
so wird er meist ein Opfer dieses Versuches, wie es Ollivier ergangen ist.
Weit leichter wird es ihm — Billault ist ein Beispiel davon — von einem
Extreme ohne Vermittelung zum andern überzuspringen; gewiß nicht immer
aus Gesinnungslosigkeit, sondern oft aus Unfähigkeit, sich außerhalb eines
fertigen Systems zu bewegen.

Dieser doctrinäre Radicalismus, der außer wo es sich um vorüberge¬
hende Coalitionen, meist zum Zwecke gemeinsamer Opposition handelt, jeden
Compromiß verschiedener Ansichten, verschiedener Parteien ausschließt, spiegelt
sich aufs treueste in der Tagespresse ab. und Tarile Delord hat daher nicht ganz
Unrecht, wenn er die Verantwortung für die Ausschreitungen der Presse auf
die Parteien abwälzt, deren Organ die Zeitungen sind. Aber es ist anderer¬
seits unbestreitbar, daß in der Presse die Excentricitäten der Parteien ihre
schärfste Gestalt annehmen. Die Presse ist systematisch rücksichtslos, um die
Logik ihrer Leser zu befriedigen; sie greift den Gegner mit allen Waffen des
Pathos und des schärfsten Spottes an, sie versetzt täglich ihren Leser bald
in den heftigsten Affect, bald reizt sie seine Lachlust, die in Frankreich nicht
immer ungefährlich ist. Verführe sie anders, so würde sie dem an starke
Kost nun einmal gewöhnten Publicum langweilig und fade erscheinen. Und
somit, mag die Presse immer einen Theil ihrer Schuld den Anforderungen
des Publicums und der Parteien zur Last legen, der Vorwurf bleibt auf
ihr haften, daß sie, wie ein Schauspieldirector, der auf den verdorbenen
Geschmach des Publicums speculirt — von wenigen besonnenen Blättern,
wie das Journal des Debats und die Revue contemporaire abgesehen — aus
Schwäche, Eigennutz und Leidenschaft den Parteien in aller Maßlosigkeit vor¬
angegangen ist und selten auch nur den Versuch gewagt hat, eine feste


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[0226] ihr zu Gebote stehenden gesetzlichen Mittel gegen sie in Anwendung zu brin¬ gen ; nicht aus übergroßer Empfindlichkeit, sondern weil die Preßfreiheit mit der französischen Staatsidee in Widerspruch steht. In Frankreich nämlich, dem Lande der Verstandesconstructionen, tritt stets dem System das System gegenüber, jedes System mit dem Anspruch auf unbedingte Herrschaft, und stets zu politischen Handstreichen bereit, zu denen die Aussicht, durch einen Erfolg in Paris das ganze centralistische Staatswesen in ihre Gewalt zu bringen, die Parteiführer nur allzu leicht verlockt. Nicht reich an Ideen, ist der Franzose Meister darin, die Ideen, die er sich angeeignet hat, bis in ihre äußersten Grenzen zu verfolgen, mit mathematischer Folgerichtigkeit, aber ohne Rücksicht auf die Natur der Dinge: er ist, gleichviel welcher Richtung er angehört, stets radicaler Doctrinär, und daher, sobald er sich in der Opposition befindet, revolutionär. Sich dem herrschenden System anzubequemen, um seine Fehler zu verbessern, das ist nicht seine Sache, scheint ihm niemals der Mühe zu lohnen. Versucht er es, so wird er meist ein Opfer dieses Versuches, wie es Ollivier ergangen ist. Weit leichter wird es ihm — Billault ist ein Beispiel davon — von einem Extreme ohne Vermittelung zum andern überzuspringen; gewiß nicht immer aus Gesinnungslosigkeit, sondern oft aus Unfähigkeit, sich außerhalb eines fertigen Systems zu bewegen. Dieser doctrinäre Radicalismus, der außer wo es sich um vorüberge¬ hende Coalitionen, meist zum Zwecke gemeinsamer Opposition handelt, jeden Compromiß verschiedener Ansichten, verschiedener Parteien ausschließt, spiegelt sich aufs treueste in der Tagespresse ab. und Tarile Delord hat daher nicht ganz Unrecht, wenn er die Verantwortung für die Ausschreitungen der Presse auf die Parteien abwälzt, deren Organ die Zeitungen sind. Aber es ist anderer¬ seits unbestreitbar, daß in der Presse die Excentricitäten der Parteien ihre schärfste Gestalt annehmen. Die Presse ist systematisch rücksichtslos, um die Logik ihrer Leser zu befriedigen; sie greift den Gegner mit allen Waffen des Pathos und des schärfsten Spottes an, sie versetzt täglich ihren Leser bald in den heftigsten Affect, bald reizt sie seine Lachlust, die in Frankreich nicht immer ungefährlich ist. Verführe sie anders, so würde sie dem an starke Kost nun einmal gewöhnten Publicum langweilig und fade erscheinen. Und somit, mag die Presse immer einen Theil ihrer Schuld den Anforderungen des Publicums und der Parteien zur Last legen, der Vorwurf bleibt auf ihr haften, daß sie, wie ein Schauspieldirector, der auf den verdorbenen Geschmach des Publicums speculirt — von wenigen besonnenen Blättern, wie das Journal des Debats und die Revue contemporaire abgesehen — aus Schwäche, Eigennutz und Leidenschaft den Parteien in aller Maßlosigkeit vor¬ angegangen ist und selten auch nur den Versuch gewagt hat, eine feste

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/226>, abgerufen am 28.07.2024.