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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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um ihre Freunde nicht in eine Lage zu bringen, "die ihnen gefährlich wer¬
den könnte."

Neben diesen Leichtsinnigen, die den verfehlten Versuch wagen, die Er¬
gebenheit mit einem gewissen Grade von Unabhängigkeit zu verbinden, gibt
es aber auch andere (und sie bilden wohl die große Mehrzahl), die von vorn¬
herein mit Abscheu jeden Gedanken an eine selbständige Candidatur zurück¬
weisen. Ein Correspondent der "Patrie" aus dem Departement Vaucluse
theilt mit, daß man damit umgehe, einen gewissen Pamard, Maire von
Avignon. als Candidaten aufzustellen, und daß der Präfect sich lebhaft für
dessen Wahl interessire. Der wackere Maire beeilt sich, der "Patrie" zu ant¬
worten, daß er die von einer Anzahl seiner Mitbürger ihm angetragene Can¬
didatur nicht eher anzunehmen gesonnen sei, als bis dieselbe offen von der
Regierung unterstützt werde. -- Anderswo sucht man die Ketten zu ver¬
decken, die man trägt: im kaiserlichen Frankreich trägt man sie offen als
Ehrenschmuck, und unabhängig genannt zu werden, gilt als Beleidigung.
Die Servilität ist mit dem Bonapartismus ebenso unzertrennlich verbunden,
wie sie es mit dem römischen Jmpcratorenthum war.

Wenn das Kaiserthum alle die gewaltigen Hilfsmittel, die es besaß, zur
Unterdrückung der Presse anwandte, so erfüllte es auch hierin nur die Pflicht
der Selbsterhaltung; denn Preßfreiheit und Bonapartismus schließen ihrem
Wesen nach einander aus. Die Preßfreiheit hat die Unabhängigkeit der öffent¬
lichen Meinung als Voraussetzung: der Bonapartismus erhebt den Anspruch,
die öffentliche Meinung in der Regierung zu concentrtren. Der pedantische
Ordnungssinn, dem jede freie Regung der Geister als geistige Anarchie er¬
scheint, ist jedoch nicht blos ein besonderer Charakterzug des Kaisers; er ist
aufs engste mit dem Centralisationsprincip verbunden und hat in Frankreich
oft Schreckliches gewirkt, zuweilen Bewunderungswürdiges geleistet, fast immer
aber die Nation bei aller Entzündbarkeit in den Schranken eines begrenzten
Ideenkreises festgehalten. Dieser Ordnungssinn machte die Phantasten Robes¬
pierre und Se, Just zu erbarmungslosen Opferern, machte den praktischen und
klardenkenden Carnot zum unsterblichen Organisator der revolutionären Ar¬
meen, befähigte den grübelnden Sieyes für jede neue Situation neue Ver¬
fassungsentwürfe bereit zu halten, in deren langweiligen mathematischen Ab-
stractionen sich nicht eine Spur von der feinen Klugheit zeigt, mit der ihr
schlauer' unaufhörlich intriguirender Verfasser in allen Fragen des Augen¬
blicks die Dinge und Menschen zu beurtheilen und, wenn sein unentschlossenes
und zaghaftes Temperament ihm das Handeln gestattete, zu behandeln
wußte. Eben dieser Ordnungssinn, das Streben nach dem Regelrechten
prägt sich in der classischen Literatur der Franzosen aus. Classisch ist das in


um ihre Freunde nicht in eine Lage zu bringen, „die ihnen gefährlich wer¬
den könnte."

Neben diesen Leichtsinnigen, die den verfehlten Versuch wagen, die Er¬
gebenheit mit einem gewissen Grade von Unabhängigkeit zu verbinden, gibt
es aber auch andere (und sie bilden wohl die große Mehrzahl), die von vorn¬
herein mit Abscheu jeden Gedanken an eine selbständige Candidatur zurück¬
weisen. Ein Correspondent der „Patrie" aus dem Departement Vaucluse
theilt mit, daß man damit umgehe, einen gewissen Pamard, Maire von
Avignon. als Candidaten aufzustellen, und daß der Präfect sich lebhaft für
dessen Wahl interessire. Der wackere Maire beeilt sich, der „Patrie" zu ant¬
worten, daß er die von einer Anzahl seiner Mitbürger ihm angetragene Can¬
didatur nicht eher anzunehmen gesonnen sei, als bis dieselbe offen von der
Regierung unterstützt werde. — Anderswo sucht man die Ketten zu ver¬
decken, die man trägt: im kaiserlichen Frankreich trägt man sie offen als
Ehrenschmuck, und unabhängig genannt zu werden, gilt als Beleidigung.
Die Servilität ist mit dem Bonapartismus ebenso unzertrennlich verbunden,
wie sie es mit dem römischen Jmpcratorenthum war.

Wenn das Kaiserthum alle die gewaltigen Hilfsmittel, die es besaß, zur
Unterdrückung der Presse anwandte, so erfüllte es auch hierin nur die Pflicht
der Selbsterhaltung; denn Preßfreiheit und Bonapartismus schließen ihrem
Wesen nach einander aus. Die Preßfreiheit hat die Unabhängigkeit der öffent¬
lichen Meinung als Voraussetzung: der Bonapartismus erhebt den Anspruch,
die öffentliche Meinung in der Regierung zu concentrtren. Der pedantische
Ordnungssinn, dem jede freie Regung der Geister als geistige Anarchie er¬
scheint, ist jedoch nicht blos ein besonderer Charakterzug des Kaisers; er ist
aufs engste mit dem Centralisationsprincip verbunden und hat in Frankreich
oft Schreckliches gewirkt, zuweilen Bewunderungswürdiges geleistet, fast immer
aber die Nation bei aller Entzündbarkeit in den Schranken eines begrenzten
Ideenkreises festgehalten. Dieser Ordnungssinn machte die Phantasten Robes¬
pierre und Se, Just zu erbarmungslosen Opferern, machte den praktischen und
klardenkenden Carnot zum unsterblichen Organisator der revolutionären Ar¬
meen, befähigte den grübelnden Sieyes für jede neue Situation neue Ver¬
fassungsentwürfe bereit zu halten, in deren langweiligen mathematischen Ab-
stractionen sich nicht eine Spur von der feinen Klugheit zeigt, mit der ihr
schlauer' unaufhörlich intriguirender Verfasser in allen Fragen des Augen¬
blicks die Dinge und Menschen zu beurtheilen und, wenn sein unentschlossenes
und zaghaftes Temperament ihm das Handeln gestattete, zu behandeln
wußte. Eben dieser Ordnungssinn, das Streben nach dem Regelrechten
prägt sich in der classischen Literatur der Franzosen aus. Classisch ist das in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/224>, abgerufen am 28.07.2024.