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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Winter in trägem Hinbrüten verbringt, nachdem ihm der Sommer bei harter
Feldarbeit verflossen ist. Es mangelt ihm jeder Sinn für die Natur und
jene naive Heiterkeit, die wir bei unserm deutschen, Landvolk nirgend ver¬
gebens suchen. Schwerlich wird sobald ein Dichter wagen, hierher den
Schauplatz einer Dorfgeschichte zu verlegen. Hier ist Alles rauhe Wirklich¬
keit, greifbare Prosa. Selten erklingt ein polnisches Volkslied. Im Jahre
1866 hörten wir die polnischen Landwehrmänner auf dem Marsche stunden¬
lang ihre eintönigen kirchlichen Gesänge wiederholen, nicht gerade in religiöser
Stimmung, sondern um sich den Marsch zu verkürzen, und weil ihnen ein
kräftiges Soldatenlied, ein munteres Volkslied fehlte. Dieselbe Armuth des
Gemüthslebens ist es, welche sich in dem Hange zu lärmender, wüster Lustig¬
keit und zum Branntwein.genuß ausspricht. Der Bauer kann nicht fröhlich
sein, ohne unmäßig zu werden. Im Rausche legt er dann wohl seine sonstige
friedfertige Gesinnung ab und läßt sich zu Händeln und zu Gewaltthätig¬
keiten herbei, die keineswegs in seiner Natur liegen.

Der polnische Bauer zeigt in seinem Charakter ein Gemisch der Bedäch¬
tigkeit und Vorsicht, welche der Grundbesitz seinen Herren mitzutheilen pflegt,
und wieder der nationalpolnischen Leichtblütigkeit und Sorglosigkeit. Bei
dem wichtigsten Schritte seines Lebens, bei der Verheirathung, werden die
künftigen Existenzmittel sorgfältig in Betracht gezogen. Die Eheschließung
wird zu einem Geschäfte, bei welchem hin und her gehandelt und geboten
wird, das eheliche Glück leidet jedoch darunter eben nicht, und der Vermeh¬
rung des Proletariats stellt sich dadurch ein kräftiger Damm entgegen. An¬
dererseits denkt aber der Bauer wenig an eine Verbesserung seiner Lage. Er
ist zufrieden, daß das Grundstück, wie es ist, ihn und die Seinigen dürftig
ernährt. Sparen ist seine Sache nicht. Braucht er Geld, beispielsweise zur
Ausstattung einer Tochter, so muß regelmäßig der Credit des Grundstücks
aushelfen. Lange bevor ihn das Alter arbeitsunfähig macht, entäußert er
sich des Grundstücks zu Gunsten eines Sohnes oder Schwiegersohnes und
begnügt sich mit dem Bezüge eines Antheils von den Früchten des Gutes,
welcher ihn in den Stand setzt, bis an seinen Tod ein mäßiges, wenn auch
kärgliches Dasein zu fristen. Dieses Institut des Altentheils ist unzweifel¬
haft in den bäuerlichen Verhältnissen lief begründet. Es ist die natürliche
Altersversorgung des invalide gewordenen Wirthes, aber es wird zu einem
wahren Verderb, wenn, wie hier häufig geschieht, der Wirth im kräftigen
Mannesalter die Wirthschaft abgibt, wodurch nicht nur der produktiven Ar¬
beit tüchtige Kräfte entzogen werden, sondern dem Grundbesitz auch auf eine
unberechenbare Zahl von Jahren eine Last aufgebürdet wird, die, je länger
desto drückender wird und endlich selbst zwischen den Gliedern derselben Fa¬
milie, geschweige denn beim Eintritt eines fremden Wirths durch Kauf oder


Winter in trägem Hinbrüten verbringt, nachdem ihm der Sommer bei harter
Feldarbeit verflossen ist. Es mangelt ihm jeder Sinn für die Natur und
jene naive Heiterkeit, die wir bei unserm deutschen, Landvolk nirgend ver¬
gebens suchen. Schwerlich wird sobald ein Dichter wagen, hierher den
Schauplatz einer Dorfgeschichte zu verlegen. Hier ist Alles rauhe Wirklich¬
keit, greifbare Prosa. Selten erklingt ein polnisches Volkslied. Im Jahre
1866 hörten wir die polnischen Landwehrmänner auf dem Marsche stunden¬
lang ihre eintönigen kirchlichen Gesänge wiederholen, nicht gerade in religiöser
Stimmung, sondern um sich den Marsch zu verkürzen, und weil ihnen ein
kräftiges Soldatenlied, ein munteres Volkslied fehlte. Dieselbe Armuth des
Gemüthslebens ist es, welche sich in dem Hange zu lärmender, wüster Lustig¬
keit und zum Branntwein.genuß ausspricht. Der Bauer kann nicht fröhlich
sein, ohne unmäßig zu werden. Im Rausche legt er dann wohl seine sonstige
friedfertige Gesinnung ab und läßt sich zu Händeln und zu Gewaltthätig¬
keiten herbei, die keineswegs in seiner Natur liegen.

Der polnische Bauer zeigt in seinem Charakter ein Gemisch der Bedäch¬
tigkeit und Vorsicht, welche der Grundbesitz seinen Herren mitzutheilen pflegt,
und wieder der nationalpolnischen Leichtblütigkeit und Sorglosigkeit. Bei
dem wichtigsten Schritte seines Lebens, bei der Verheirathung, werden die
künftigen Existenzmittel sorgfältig in Betracht gezogen. Die Eheschließung
wird zu einem Geschäfte, bei welchem hin und her gehandelt und geboten
wird, das eheliche Glück leidet jedoch darunter eben nicht, und der Vermeh¬
rung des Proletariats stellt sich dadurch ein kräftiger Damm entgegen. An¬
dererseits denkt aber der Bauer wenig an eine Verbesserung seiner Lage. Er
ist zufrieden, daß das Grundstück, wie es ist, ihn und die Seinigen dürftig
ernährt. Sparen ist seine Sache nicht. Braucht er Geld, beispielsweise zur
Ausstattung einer Tochter, so muß regelmäßig der Credit des Grundstücks
aushelfen. Lange bevor ihn das Alter arbeitsunfähig macht, entäußert er
sich des Grundstücks zu Gunsten eines Sohnes oder Schwiegersohnes und
begnügt sich mit dem Bezüge eines Antheils von den Früchten des Gutes,
welcher ihn in den Stand setzt, bis an seinen Tod ein mäßiges, wenn auch
kärgliches Dasein zu fristen. Dieses Institut des Altentheils ist unzweifel¬
haft in den bäuerlichen Verhältnissen lief begründet. Es ist die natürliche
Altersversorgung des invalide gewordenen Wirthes, aber es wird zu einem
wahren Verderb, wenn, wie hier häufig geschieht, der Wirth im kräftigen
Mannesalter die Wirthschaft abgibt, wodurch nicht nur der produktiven Ar¬
beit tüchtige Kräfte entzogen werden, sondern dem Grundbesitz auch auf eine
unberechenbare Zahl von Jahren eine Last aufgebürdet wird, die, je länger
desto drückender wird und endlich selbst zwischen den Gliedern derselben Fa¬
milie, geschweige denn beim Eintritt eines fremden Wirths durch Kauf oder


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[0218] Winter in trägem Hinbrüten verbringt, nachdem ihm der Sommer bei harter Feldarbeit verflossen ist. Es mangelt ihm jeder Sinn für die Natur und jene naive Heiterkeit, die wir bei unserm deutschen, Landvolk nirgend ver¬ gebens suchen. Schwerlich wird sobald ein Dichter wagen, hierher den Schauplatz einer Dorfgeschichte zu verlegen. Hier ist Alles rauhe Wirklich¬ keit, greifbare Prosa. Selten erklingt ein polnisches Volkslied. Im Jahre 1866 hörten wir die polnischen Landwehrmänner auf dem Marsche stunden¬ lang ihre eintönigen kirchlichen Gesänge wiederholen, nicht gerade in religiöser Stimmung, sondern um sich den Marsch zu verkürzen, und weil ihnen ein kräftiges Soldatenlied, ein munteres Volkslied fehlte. Dieselbe Armuth des Gemüthslebens ist es, welche sich in dem Hange zu lärmender, wüster Lustig¬ keit und zum Branntwein.genuß ausspricht. Der Bauer kann nicht fröhlich sein, ohne unmäßig zu werden. Im Rausche legt er dann wohl seine sonstige friedfertige Gesinnung ab und läßt sich zu Händeln und zu Gewaltthätig¬ keiten herbei, die keineswegs in seiner Natur liegen. Der polnische Bauer zeigt in seinem Charakter ein Gemisch der Bedäch¬ tigkeit und Vorsicht, welche der Grundbesitz seinen Herren mitzutheilen pflegt, und wieder der nationalpolnischen Leichtblütigkeit und Sorglosigkeit. Bei dem wichtigsten Schritte seines Lebens, bei der Verheirathung, werden die künftigen Existenzmittel sorgfältig in Betracht gezogen. Die Eheschließung wird zu einem Geschäfte, bei welchem hin und her gehandelt und geboten wird, das eheliche Glück leidet jedoch darunter eben nicht, und der Vermeh¬ rung des Proletariats stellt sich dadurch ein kräftiger Damm entgegen. An¬ dererseits denkt aber der Bauer wenig an eine Verbesserung seiner Lage. Er ist zufrieden, daß das Grundstück, wie es ist, ihn und die Seinigen dürftig ernährt. Sparen ist seine Sache nicht. Braucht er Geld, beispielsweise zur Ausstattung einer Tochter, so muß regelmäßig der Credit des Grundstücks aushelfen. Lange bevor ihn das Alter arbeitsunfähig macht, entäußert er sich des Grundstücks zu Gunsten eines Sohnes oder Schwiegersohnes und begnügt sich mit dem Bezüge eines Antheils von den Früchten des Gutes, welcher ihn in den Stand setzt, bis an seinen Tod ein mäßiges, wenn auch kärgliches Dasein zu fristen. Dieses Institut des Altentheils ist unzweifel¬ haft in den bäuerlichen Verhältnissen lief begründet. Es ist die natürliche Altersversorgung des invalide gewordenen Wirthes, aber es wird zu einem wahren Verderb, wenn, wie hier häufig geschieht, der Wirth im kräftigen Mannesalter die Wirthschaft abgibt, wodurch nicht nur der produktiven Ar¬ beit tüchtige Kräfte entzogen werden, sondern dem Grundbesitz auch auf eine unberechenbare Zahl von Jahren eine Last aufgebürdet wird, die, je länger desto drückender wird und endlich selbst zwischen den Gliedern derselben Fa¬ milie, geschweige denn beim Eintritt eines fremden Wirths durch Kauf oder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/218>, abgerufen am 28.07.2024.