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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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im Dorfe mit seinem Rathe überoll aushelfen muß. Die Bibel wird ihm
nicht in die Hand gegeben, und zu den wenigen sich sonntäglich wiederholenden
Gesängen, die sein Gottesdienst erheischt, reicht sein Gedächtniß aus.
Was sonst dem einwandernden Deutschen am polnischen Bauer zunächst
auffällt, ist dessen Liebe zum Branntwein und, wenn er weiter ins Land
hineinkommt, die Schmucklosigkeit, ja Unsauberkeit eines polnischen Dorfes.

Indessen darf dieser ungünstige Eindruck unser Urtheil nicht ausschließ,
lich bestimmen. Die polnischen Bauern, so weit sie auch zur Zeit noch zu¬
rückstehen mögen, sind ein kräftiger, leiblich und geistig gesunder Menschen-
schlag, von unzweifelhafter Kulturfähigkeit und, wie es scheint, dazu bestimmt,
von sich aus ihre Nation zu verjüngen, abgestorbene Glieder zu ersetzen,
kränkende mit frischen Säften zu versorgen. Ein kurzer Blick in die Ver¬
gangenheit dieser Provinz genügt, um den Abstand erklärlich zu machen,
welcher gegenwärtig noch zwischen dem polnischen und dem deutschen Bauer
besteht.

Der deutsche Einwanderer, von polnischen Grundherren herbeigerufen
in die von Krieg und Pest entvölkerten Landstriche, brachte nicht allein
deutschen Fleiß, sondern auch sein deutsches Recht mit, dessen Gebrauch er
sich in feierlichen Privilegien bestätigen ließ. Seine Stelle besaß er frei von
Unterthänigkeit, gegen einen baaren Zins und einige andere Leistungen.
Seine Rechtsangelegenheiten wurden in erster Instanz von den selbstgewähl¬
ten Dorfgerichten, in zweiter Instanz von den Reichsgerichten geschlichtet.
Anders gestaltete sich das Loos der polnischen Bauern. Sie waren Leib¬
eigne, ein Schicksal, welches sie freilich mit den Bauern andrer Länder theil¬
ten, welches aber nirgends mit solcher Schwere auf dem Bauer lastete, weil
hier alle die Schranken fehlten, welche anderswo durch das Gesetz dem will¬
kürlichen Verfahren der Grundherren gezogen wurden. Die Zustände in
Polen entwickelten sich in entgegengesetzter Richtung, wie im übrigen Europa.
Zu der Zeit, wo hier die Macht der Landesherren sich über die feudalen
Ordnungen erhob und die großen Grundbesitzer in die Stellung von Unter¬
thanen herabdrückte, brachte in Polen der Grundadel ein Stück der Herr¬
schaft nach dem andern an sich. Zu Ende des sechszehnten Jahrhunderts
erreichte er die Umwandlung des erblichen Königthums in ein Wahlkönig¬
thum, und damit verfiel das Reich einer zügellosen Adelsherrschaft. Der
Adel bemächtigte sich der Gerichtsbarkeit über seine Güter; der Bauer, dem
der Zutritt zu den Reichsgerichten gänzlich versagt war, war seinem Herrn
gegenüber rathlos; alles, was er hatte, besaß er nur durch die Gnade des
Herrn auf beliebigen Widerruf gegen ungemessene Frohnden. Der Schutz
des Gesetzes, welcher für ihn nicht vorhanden war, wurde mit Härte gegen
ihn zur Anwendung gebracht. So lange er in der Gewalt seines Herrn


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im Dorfe mit seinem Rathe überoll aushelfen muß. Die Bibel wird ihm
nicht in die Hand gegeben, und zu den wenigen sich sonntäglich wiederholenden
Gesängen, die sein Gottesdienst erheischt, reicht sein Gedächtniß aus.
Was sonst dem einwandernden Deutschen am polnischen Bauer zunächst
auffällt, ist dessen Liebe zum Branntwein und, wenn er weiter ins Land
hineinkommt, die Schmucklosigkeit, ja Unsauberkeit eines polnischen Dorfes.

Indessen darf dieser ungünstige Eindruck unser Urtheil nicht ausschließ,
lich bestimmen. Die polnischen Bauern, so weit sie auch zur Zeit noch zu¬
rückstehen mögen, sind ein kräftiger, leiblich und geistig gesunder Menschen-
schlag, von unzweifelhafter Kulturfähigkeit und, wie es scheint, dazu bestimmt,
von sich aus ihre Nation zu verjüngen, abgestorbene Glieder zu ersetzen,
kränkende mit frischen Säften zu versorgen. Ein kurzer Blick in die Ver¬
gangenheit dieser Provinz genügt, um den Abstand erklärlich zu machen,
welcher gegenwärtig noch zwischen dem polnischen und dem deutschen Bauer
besteht.

Der deutsche Einwanderer, von polnischen Grundherren herbeigerufen
in die von Krieg und Pest entvölkerten Landstriche, brachte nicht allein
deutschen Fleiß, sondern auch sein deutsches Recht mit, dessen Gebrauch er
sich in feierlichen Privilegien bestätigen ließ. Seine Stelle besaß er frei von
Unterthänigkeit, gegen einen baaren Zins und einige andere Leistungen.
Seine Rechtsangelegenheiten wurden in erster Instanz von den selbstgewähl¬
ten Dorfgerichten, in zweiter Instanz von den Reichsgerichten geschlichtet.
Anders gestaltete sich das Loos der polnischen Bauern. Sie waren Leib¬
eigne, ein Schicksal, welches sie freilich mit den Bauern andrer Länder theil¬
ten, welches aber nirgends mit solcher Schwere auf dem Bauer lastete, weil
hier alle die Schranken fehlten, welche anderswo durch das Gesetz dem will¬
kürlichen Verfahren der Grundherren gezogen wurden. Die Zustände in
Polen entwickelten sich in entgegengesetzter Richtung, wie im übrigen Europa.
Zu der Zeit, wo hier die Macht der Landesherren sich über die feudalen
Ordnungen erhob und die großen Grundbesitzer in die Stellung von Unter¬
thanen herabdrückte, brachte in Polen der Grundadel ein Stück der Herr¬
schaft nach dem andern an sich. Zu Ende des sechszehnten Jahrhunderts
erreichte er die Umwandlung des erblichen Königthums in ein Wahlkönig¬
thum, und damit verfiel das Reich einer zügellosen Adelsherrschaft. Der
Adel bemächtigte sich der Gerichtsbarkeit über seine Güter; der Bauer, dem
der Zutritt zu den Reichsgerichten gänzlich versagt war, war seinem Herrn
gegenüber rathlos; alles, was er hatte, besaß er nur durch die Gnade des
Herrn auf beliebigen Widerruf gegen ungemessene Frohnden. Der Schutz
des Gesetzes, welcher für ihn nicht vorhanden war, wurde mit Härte gegen
ihn zur Anwendung gebracht. So lange er in der Gewalt seines Herrn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/215>, abgerufen am 28.07.2024.