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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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wie Lavastrom Platz im Welten, Unbegrenzten macht, bis er wieder bezwungen
werden kann. Es ist recht leicht sagen, daß in der Kunst jeder Inhalt seine
Form selbst bedinge und sich mache, es ist aber ebenso dilettantisch zu glauben,
damit etwas gesagt zu haben, und zu meinen, es sei dem Künstler bet der
ersten Idee eines Kunstwerkes alles gleich so fix und fertig, wie es in seiner
Vollendung dem Hörer producirt wird, jedes Arbeiten und Aendern daran
sei nur Mangel an Genie, dieses könne in der Begeisterung nur gleich das
Rechte finden. Wenn es nach aller Arbeit so geworden, daß von keiner
Arbeit etwas zu merken, so ist das mehr die Spitze der Vollendung, die aber
ohne Arbeit Keiner erreicht, sie will nur eben wieder aufgearbeitet sein,
nicht nur zur technischen, auch zur idealen Durchbildung des Werkes: denn
auch die Leidenschaft will verarbeitet sein in die künstlerische Gestaltung, daß
sie nicht mit materieller Schwere auf uns laste: daß der Schmerz uns Freude
machen könne; nicht in Theilnahmlosigkeit. aber in Anschauung einer Harmonie,
in der die Dissonanz sich löst, im kleinen Kunstganzen, wie er in der Wirk¬
lichkeit sich löst im großen Weltganzen. Wo wir gedrückt, gemartert und
zermalmt weggehen von einem Kunstwerk, da ist sein Schöpfer immer kein
rechter Künstler gewesen, wie viel er sich auch dünken mag, uns um soviel
mehr aufzuregen, als es die classischen Meister thun. Was geht mich am
Ende der trostlose Jammer eines Componisten an. ich wende mich lieber weg
davon, wie jener Gutsherr, der einen lahmen zerlumpten Bettler in seinen Hof
kommen sah. dem Bedienten sagte: "Johann, nehm er einmal die Peitsche und
jage mir den Kerl vom Hofe, das arme Thier jammert mich zu sehr!" --


M. H.

Leipzig, den 17. April 1856.


Lieber verehrter Freund!

Wie die unbeschäftigten Leute den Beschäftigten oft mit Besuchen zur
Last fallen, so kann's wohl mit Briefen geschehen, und wenn ich schon wieder
mit einem solchen komme, könnte Ihnen wohl ein leises: "Besen, Besen.
seid's gewesen!" entfahren.---Das 9te Lied öder Compositionen zu
Klaus Groth's "Quickborn ganz auszuscheiden, würde ich mich doch be¬
denken, es könnte Anderen leicht ein vorzüglich wünschenswertes sein, jetzt
werde ich's wenigstens darauf, sobald ich das Heft wieder bekomme, mit aller
Unparteilichkeit gegen den ersten Eindruck wieder ansehen. Bei dem ersten
Lied, das mir besonders lieb ist, das mit dem Refrain "Johann, ich muß fort"
wollte mir immer der musikalische Ausdruck eben dieser Phrase nicht ganz



-) "Neun Lieder aus Klaus Groth's Quickborn", für eine Singstimme mit Begleitung des
Pianoforte, von Otto Jahr. Hi. Samml. Leipzig. Breitkopf K Härtel. -- Außerdem: Sieben
Lieder -c.", IV. Samml. Ebenda.

wie Lavastrom Platz im Welten, Unbegrenzten macht, bis er wieder bezwungen
werden kann. Es ist recht leicht sagen, daß in der Kunst jeder Inhalt seine
Form selbst bedinge und sich mache, es ist aber ebenso dilettantisch zu glauben,
damit etwas gesagt zu haben, und zu meinen, es sei dem Künstler bet der
ersten Idee eines Kunstwerkes alles gleich so fix und fertig, wie es in seiner
Vollendung dem Hörer producirt wird, jedes Arbeiten und Aendern daran
sei nur Mangel an Genie, dieses könne in der Begeisterung nur gleich das
Rechte finden. Wenn es nach aller Arbeit so geworden, daß von keiner
Arbeit etwas zu merken, so ist das mehr die Spitze der Vollendung, die aber
ohne Arbeit Keiner erreicht, sie will nur eben wieder aufgearbeitet sein,
nicht nur zur technischen, auch zur idealen Durchbildung des Werkes: denn
auch die Leidenschaft will verarbeitet sein in die künstlerische Gestaltung, daß
sie nicht mit materieller Schwere auf uns laste: daß der Schmerz uns Freude
machen könne; nicht in Theilnahmlosigkeit. aber in Anschauung einer Harmonie,
in der die Dissonanz sich löst, im kleinen Kunstganzen, wie er in der Wirk¬
lichkeit sich löst im großen Weltganzen. Wo wir gedrückt, gemartert und
zermalmt weggehen von einem Kunstwerk, da ist sein Schöpfer immer kein
rechter Künstler gewesen, wie viel er sich auch dünken mag, uns um soviel
mehr aufzuregen, als es die classischen Meister thun. Was geht mich am
Ende der trostlose Jammer eines Componisten an. ich wende mich lieber weg
davon, wie jener Gutsherr, der einen lahmen zerlumpten Bettler in seinen Hof
kommen sah. dem Bedienten sagte: „Johann, nehm er einmal die Peitsche und
jage mir den Kerl vom Hofe, das arme Thier jammert mich zu sehr!" —


M. H.

Leipzig, den 17. April 1856.


Lieber verehrter Freund!

Wie die unbeschäftigten Leute den Beschäftigten oft mit Besuchen zur
Last fallen, so kann's wohl mit Briefen geschehen, und wenn ich schon wieder
mit einem solchen komme, könnte Ihnen wohl ein leises: „Besen, Besen.
seid's gewesen!" entfahren.---Das 9te Lied öder Compositionen zu
Klaus Groth's „Quickborn ganz auszuscheiden, würde ich mich doch be¬
denken, es könnte Anderen leicht ein vorzüglich wünschenswertes sein, jetzt
werde ich's wenigstens darauf, sobald ich das Heft wieder bekomme, mit aller
Unparteilichkeit gegen den ersten Eindruck wieder ansehen. Bei dem ersten
Lied, das mir besonders lieb ist, das mit dem Refrain „Johann, ich muß fort"
wollte mir immer der musikalische Ausdruck eben dieser Phrase nicht ganz



-) „Neun Lieder aus Klaus Groth's Quickborn", für eine Singstimme mit Begleitung des
Pianoforte, von Otto Jahr. Hi. Samml. Leipzig. Breitkopf K Härtel. — Außerdem: Sieben
Lieder -c.", IV. Samml. Ebenda.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/92>, abgerufen am 01.09.2024.