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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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auf dreißig Lebende eine Geburt kommt. Die wirkliche Fruchtbarkeit bleibt
oft um das Doppelte hinter der möglichen zurück. Dabei liegen auch die
Extreme gar nicht so weit auseinander, nämlich Sachsen mit 1 : 23 (1849)
und Frankreich mit 1 : 38 (1847).

Von den sämmtlichen Geburten pflegen die Mehrgeburten (Zwillinge,
Drillinge u. s. f.) 1 bis 1'/- Procent zu betragen.

Die Sterblichkeit schwankt stärker als das Geburtsverhältniß. Sie betrug
in der oben erwähnten Hälfte unseres Welttheils zur nämlichen Zeit je
einen Todesfall auf 38'/- Lebende; die Extreme waren aber so weit ausein¬
ander, wie 1: 2Z2/z (Oesterreich 1847) und 1 : S^/z (Norwegen 1864). Am
stärksten ist sie im kindlichen Alter: der Mensch kommt als ein schwaches, leicht
wieder ausgeblasenes Lebensflämmchen auf die Welt. Von der Gesammtzahl
der Gestorbenen fallen, kann man annehmen, reichlich 45 Procent oder nahe
an die Hälfte auf todtgeborne und vor Vollendung des fünften Lebensjahres
schon wieder hinweggeraffte Kinder. 19--33 Procent aller Gebornen starben
während der mehrerwähnten Beobachtungszeit in West-Europa vor dem
Ablauf des ersten Lebensjahres, Innerhalb des kindlichen Alters haben daher
auch die Mittel, welche eine aufgeklärte und thatkräftige Bevölkerung an¬
wenden kann, um das Reich des Todes einzuschränken. den verhältnißmäßig
weitesten Spielraum. Von höherem wirthschaftlichen Werthe als das Leben
eines Kindes, das nur erst Dienste empfängt, ohne seinerseits wieder Dienste
zu leisten, ist freilich das Leben eines Erwachsenen, der einen regelmäßigen
und vielleicht beträchtlichen Ueberschuß über seinen eigenen Verbrauch hervor'
bringt. Allein wer kann berechnen, um wieviel der Verlust eines geliebten
Kindes die nachhaltige Erwerbsanstrengung des Vaters oder der Mutter lähmt?
welche Hoffnungen der Gesellschaft in einem dieser ohne Noth zu Grunde
gerichteten Keime menschlicher Leistungsfähigkeit verloren gehen? Die Sterb¬
lichkeit in allen Lebensaltern zu vermindern ist eine Hauptaufgabe der prak¬
tischen Gesundheitspflege, welche sich gegenwärtig in allen Richtungen kraftvoll
Bahn bricht, und muß bis zu einem gewissen Punkt als ein sehr wohl erreich¬
bares Ziel gelten, wie die englische Medictnalstatistik an der Wirkung städtischer
Canalisationen und Wasserleitungen bereits überzeugend dargethan hat.
Ungewollt und mittelbar wirkt eben dahin indessen auch alles, was Wohl¬
stand und Sittlichkeit zu befördern dient. Laster erhöhen die Sterblichkett,
zumal auch in Epidemien, die ihre üppigste Ernte stets unter den schon unter¬
grabenen Physischen Existenzen halten. Die Classen, welche am auskömm¬
lichsten und maßvollsten zugleich leben, leben durchschnittlich auch am längsten.

Als mittlere Lebensdauer, berechnet aus der Verbindung von Geburts¬
verhältniß und Sterblichkeit, gibt Wappäus an für


auf dreißig Lebende eine Geburt kommt. Die wirkliche Fruchtbarkeit bleibt
oft um das Doppelte hinter der möglichen zurück. Dabei liegen auch die
Extreme gar nicht so weit auseinander, nämlich Sachsen mit 1 : 23 (1849)
und Frankreich mit 1 : 38 (1847).

Von den sämmtlichen Geburten pflegen die Mehrgeburten (Zwillinge,
Drillinge u. s. f.) 1 bis 1'/- Procent zu betragen.

Die Sterblichkeit schwankt stärker als das Geburtsverhältniß. Sie betrug
in der oben erwähnten Hälfte unseres Welttheils zur nämlichen Zeit je
einen Todesfall auf 38'/- Lebende; die Extreme waren aber so weit ausein¬
ander, wie 1: 2Z2/z (Oesterreich 1847) und 1 : S^/z (Norwegen 1864). Am
stärksten ist sie im kindlichen Alter: der Mensch kommt als ein schwaches, leicht
wieder ausgeblasenes Lebensflämmchen auf die Welt. Von der Gesammtzahl
der Gestorbenen fallen, kann man annehmen, reichlich 45 Procent oder nahe
an die Hälfte auf todtgeborne und vor Vollendung des fünften Lebensjahres
schon wieder hinweggeraffte Kinder. 19—33 Procent aller Gebornen starben
während der mehrerwähnten Beobachtungszeit in West-Europa vor dem
Ablauf des ersten Lebensjahres, Innerhalb des kindlichen Alters haben daher
auch die Mittel, welche eine aufgeklärte und thatkräftige Bevölkerung an¬
wenden kann, um das Reich des Todes einzuschränken. den verhältnißmäßig
weitesten Spielraum. Von höherem wirthschaftlichen Werthe als das Leben
eines Kindes, das nur erst Dienste empfängt, ohne seinerseits wieder Dienste
zu leisten, ist freilich das Leben eines Erwachsenen, der einen regelmäßigen
und vielleicht beträchtlichen Ueberschuß über seinen eigenen Verbrauch hervor'
bringt. Allein wer kann berechnen, um wieviel der Verlust eines geliebten
Kindes die nachhaltige Erwerbsanstrengung des Vaters oder der Mutter lähmt?
welche Hoffnungen der Gesellschaft in einem dieser ohne Noth zu Grunde
gerichteten Keime menschlicher Leistungsfähigkeit verloren gehen? Die Sterb¬
lichkeit in allen Lebensaltern zu vermindern ist eine Hauptaufgabe der prak¬
tischen Gesundheitspflege, welche sich gegenwärtig in allen Richtungen kraftvoll
Bahn bricht, und muß bis zu einem gewissen Punkt als ein sehr wohl erreich¬
bares Ziel gelten, wie die englische Medictnalstatistik an der Wirkung städtischer
Canalisationen und Wasserleitungen bereits überzeugend dargethan hat.
Ungewollt und mittelbar wirkt eben dahin indessen auch alles, was Wohl¬
stand und Sittlichkeit zu befördern dient. Laster erhöhen die Sterblichkett,
zumal auch in Epidemien, die ihre üppigste Ernte stets unter den schon unter¬
grabenen Physischen Existenzen halten. Die Classen, welche am auskömm¬
lichsten und maßvollsten zugleich leben, leben durchschnittlich auch am längsten.

Als mittlere Lebensdauer, berechnet aus der Verbindung von Geburts¬
verhältniß und Sterblichkeit, gibt Wappäus an für


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[0076] auf dreißig Lebende eine Geburt kommt. Die wirkliche Fruchtbarkeit bleibt oft um das Doppelte hinter der möglichen zurück. Dabei liegen auch die Extreme gar nicht so weit auseinander, nämlich Sachsen mit 1 : 23 (1849) und Frankreich mit 1 : 38 (1847). Von den sämmtlichen Geburten pflegen die Mehrgeburten (Zwillinge, Drillinge u. s. f.) 1 bis 1'/- Procent zu betragen. Die Sterblichkeit schwankt stärker als das Geburtsverhältniß. Sie betrug in der oben erwähnten Hälfte unseres Welttheils zur nämlichen Zeit je einen Todesfall auf 38'/- Lebende; die Extreme waren aber so weit ausein¬ ander, wie 1: 2Z2/z (Oesterreich 1847) und 1 : S^/z (Norwegen 1864). Am stärksten ist sie im kindlichen Alter: der Mensch kommt als ein schwaches, leicht wieder ausgeblasenes Lebensflämmchen auf die Welt. Von der Gesammtzahl der Gestorbenen fallen, kann man annehmen, reichlich 45 Procent oder nahe an die Hälfte auf todtgeborne und vor Vollendung des fünften Lebensjahres schon wieder hinweggeraffte Kinder. 19—33 Procent aller Gebornen starben während der mehrerwähnten Beobachtungszeit in West-Europa vor dem Ablauf des ersten Lebensjahres, Innerhalb des kindlichen Alters haben daher auch die Mittel, welche eine aufgeklärte und thatkräftige Bevölkerung an¬ wenden kann, um das Reich des Todes einzuschränken. den verhältnißmäßig weitesten Spielraum. Von höherem wirthschaftlichen Werthe als das Leben eines Kindes, das nur erst Dienste empfängt, ohne seinerseits wieder Dienste zu leisten, ist freilich das Leben eines Erwachsenen, der einen regelmäßigen und vielleicht beträchtlichen Ueberschuß über seinen eigenen Verbrauch hervor' bringt. Allein wer kann berechnen, um wieviel der Verlust eines geliebten Kindes die nachhaltige Erwerbsanstrengung des Vaters oder der Mutter lähmt? welche Hoffnungen der Gesellschaft in einem dieser ohne Noth zu Grunde gerichteten Keime menschlicher Leistungsfähigkeit verloren gehen? Die Sterb¬ lichkeit in allen Lebensaltern zu vermindern ist eine Hauptaufgabe der prak¬ tischen Gesundheitspflege, welche sich gegenwärtig in allen Richtungen kraftvoll Bahn bricht, und muß bis zu einem gewissen Punkt als ein sehr wohl erreich¬ bares Ziel gelten, wie die englische Medictnalstatistik an der Wirkung städtischer Canalisationen und Wasserleitungen bereits überzeugend dargethan hat. Ungewollt und mittelbar wirkt eben dahin indessen auch alles, was Wohl¬ stand und Sittlichkeit zu befördern dient. Laster erhöhen die Sterblichkett, zumal auch in Epidemien, die ihre üppigste Ernte stets unter den schon unter¬ grabenen Physischen Existenzen halten. Die Classen, welche am auskömm¬ lichsten und maßvollsten zugleich leben, leben durchschnittlich auch am längsten. Als mittlere Lebensdauer, berechnet aus der Verbindung von Geburts¬ verhältniß und Sterblichkeit, gibt Wappäus an für

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/76>, abgerufen am 01.09.2024.