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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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Lectüre von Büchern und Zeitschriften, den Besuch eines Clubs, gelegentliche
Ausflüge ins Freie u. dergl. zu rechnen, so ist etwas da. was ihn für zeit¬
weiligen Verzicht auf Familienfreuden schadlos zu halten vermag. Er be¬
trachtet dann nicht mehr einen unbeschränkten Geschlechtsgenuß als das Ein¬
zige, was der reiche Mann vor ihm nicht voraussähe, und was er daher
auch schrankenlos genießen müsse, um sein Menschenrecht durch die That zu
behaupten, gleichviel was daraus entstehen möge.

Die verhältnißmäßige Fülle der Bevölkerung in den meisten europäischen
Ländern, welche hier und da regelmäßiges Massenauswandern eher zu be¬
fördern als zu mindern scheint, und das riesenhafte Wachsthum der Volks¬
zahl Nordamerikas seit der Gründung der großen Republik haben mit dem
Umstände, daß Dampf und Electricität uns die Enden der bewohnten Erde
neuerdings so unvergleichlich viel näher gerückt haben, augenscheinlich zusam¬
mengewirkt, um die Sorge vor Uebervölkerung seit Malthus' Tagen als die
überall und entschieden vorherrschende zu erhalten. Daher sucht der öffent¬
liche Geist des Jahrhunderts fast ausschließlich nach Beruhigungen gegen sie,
nach Mitteln, ihrer Verwirklichung entgegenzuarbeiten, anstatt umgekehrt
nach Abhilfe für Entvölkerung. Es fehlt jedoch auch nicht ganz an Symp¬
tomen, daß die Fluth demnächst einmal wieder in dieser Richtung fließen
könnte. In den Zweikinder-Ehen von Paris und anderen französischen
Städten, der gewerbsmäßigen Engelmacherei verschiedener Hauptstädte sehen
wir die den höheren Ständen eigene geringere Production durch Selbst¬
beschränkung in ein unsittliches, ja verbrecherisches Extrem ausschlagen. Gleich¬
artiges ist neuerlich in den eigentlichen Uankee-Staaten Nordamerikas beobach¬
tet und sogar bis zu einem gewissen Umfang statistisch festgestellt worden:
eine zunehmende Abneigung der Frauen gegen das Kindesgebären. die bei der
gebietenden gesellschaftlichen Stellung der "Dame" dort mehr zu bedeuten
hat, als wenn etwa die Ehefrauen in einer deutschen Landstadt sich darauf
das Wort gäben. Während über den großen Ocean die Chinesen immer
massenhafter nach dem Westen der Union herüberströmen, droht im Osten die
kräftige Race auszusterben, welche ihre politischen und socialen Grundlagen
gelegt hat.

Durch solche Auswüchse darf man sich übrigens die Bewegung zur Ver¬
besserung der gesellschaftlichen Lage des Weibes nicht verdächtigen lassen,
welche allerdings mehr oder weniger von Amerika zu uns herübergekommen
ist. Nach den Zielen, welche sie sich in Deutschland gesteckt hat, freierem
Erwerb und praktischer Bildung, hilft sie mittelbar auch der Uebervölkerungs-
gefahr vorbeugen. Sie muß in dem Maße, wie sie diese ihre Ziele erreicht,
zwei in dieser Richtung liegende Uebel verringern, uneheliche Empfängnisse
und verkehrte Ehen. Der ganze Verkehr der Geschlechter sowohl wie die


Lectüre von Büchern und Zeitschriften, den Besuch eines Clubs, gelegentliche
Ausflüge ins Freie u. dergl. zu rechnen, so ist etwas da. was ihn für zeit¬
weiligen Verzicht auf Familienfreuden schadlos zu halten vermag. Er be¬
trachtet dann nicht mehr einen unbeschränkten Geschlechtsgenuß als das Ein¬
zige, was der reiche Mann vor ihm nicht voraussähe, und was er daher
auch schrankenlos genießen müsse, um sein Menschenrecht durch die That zu
behaupten, gleichviel was daraus entstehen möge.

Die verhältnißmäßige Fülle der Bevölkerung in den meisten europäischen
Ländern, welche hier und da regelmäßiges Massenauswandern eher zu be¬
fördern als zu mindern scheint, und das riesenhafte Wachsthum der Volks¬
zahl Nordamerikas seit der Gründung der großen Republik haben mit dem
Umstände, daß Dampf und Electricität uns die Enden der bewohnten Erde
neuerdings so unvergleichlich viel näher gerückt haben, augenscheinlich zusam¬
mengewirkt, um die Sorge vor Uebervölkerung seit Malthus' Tagen als die
überall und entschieden vorherrschende zu erhalten. Daher sucht der öffent¬
liche Geist des Jahrhunderts fast ausschließlich nach Beruhigungen gegen sie,
nach Mitteln, ihrer Verwirklichung entgegenzuarbeiten, anstatt umgekehrt
nach Abhilfe für Entvölkerung. Es fehlt jedoch auch nicht ganz an Symp¬
tomen, daß die Fluth demnächst einmal wieder in dieser Richtung fließen
könnte. In den Zweikinder-Ehen von Paris und anderen französischen
Städten, der gewerbsmäßigen Engelmacherei verschiedener Hauptstädte sehen
wir die den höheren Ständen eigene geringere Production durch Selbst¬
beschränkung in ein unsittliches, ja verbrecherisches Extrem ausschlagen. Gleich¬
artiges ist neuerlich in den eigentlichen Uankee-Staaten Nordamerikas beobach¬
tet und sogar bis zu einem gewissen Umfang statistisch festgestellt worden:
eine zunehmende Abneigung der Frauen gegen das Kindesgebären. die bei der
gebietenden gesellschaftlichen Stellung der „Dame" dort mehr zu bedeuten
hat, als wenn etwa die Ehefrauen in einer deutschen Landstadt sich darauf
das Wort gäben. Während über den großen Ocean die Chinesen immer
massenhafter nach dem Westen der Union herüberströmen, droht im Osten die
kräftige Race auszusterben, welche ihre politischen und socialen Grundlagen
gelegt hat.

Durch solche Auswüchse darf man sich übrigens die Bewegung zur Ver¬
besserung der gesellschaftlichen Lage des Weibes nicht verdächtigen lassen,
welche allerdings mehr oder weniger von Amerika zu uns herübergekommen
ist. Nach den Zielen, welche sie sich in Deutschland gesteckt hat, freierem
Erwerb und praktischer Bildung, hilft sie mittelbar auch der Uebervölkerungs-
gefahr vorbeugen. Sie muß in dem Maße, wie sie diese ihre Ziele erreicht,
zwei in dieser Richtung liegende Uebel verringern, uneheliche Empfängnisse
und verkehrte Ehen. Der ganze Verkehr der Geschlechter sowohl wie die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/73>, abgerufen am 01.09.2024.