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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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setzlich erlaubt ist und viele ärmere Paare in der Aussicht auf sie heirathen
-- etwa so, wie in England und anderen Paradiesen der Zwangsarmen¬
pflege in der Aussicht auf öffentliche Almosen. Aber auch in dem civilisir-
testen Staate der antiken Welt, in Athen war die Aussetzung Neugeborener
ein gesetzliches Recht des Vaters. Plato nahm diese Praxis unter die Grund¬
säulen seines idealen Staats auf, und Aristoteles, der große politische Den¬
ker des Alterthums, sah nicht ein, was vom sittlichen Standpunkt gegen
die verwandte Praxis der Entfernung Ungeborener einzuwenden sein sollte.
Uebervölkerungs-Besorgnisse spukten eben auch damals schon, wie heute, in
ängstlichen und voraussichtigen Köpfen. Man könnte sagen, berechtigter
damals als heute, weil ein verhältnißmäßig so kleiner Theil der Erde erst
bekannt, und dieser in seiner Bewohnbarkeit für Griechen obendrein durch die
nationale Abschließung gegen alle Fremden eingeengt war.

Dergleichen widerstreitet peinlich den modernen Begriffen von menschen¬
würdiger Freiheit und Selbstbestimmung.

Dasselbe muß von den gesetzlichen Erschwerungen des Heirathens gelten,
welche bis vor kurzem noch in einer größeren Zahl deutscher Staaten bestan¬
den, und deren liebevolle eingehende Betrachtung noch eine der Schwächen
einer jetzt aussterbenden Generation deutscher staatswissenschaftlicher Gelehrten
wie z. B. Robert Mohl's ausmachte. Zustimmung der Gemeinde oder der
Staatsbehörde, Vorbedingung eines gewissen Alters, Erforderniß eines Gut¬
habens in der Sparcasse oder des Eintritts in eine Krankheits-, Alters- und
Lebens-Versicherungsanstalt -- alle diese Clauseln haben theils wirklich be¬
standen, theils sind sie von Theoretikern dringend vorgeschlagen und um¬
ständlich begründet worden, bis für Norddeutschland wenigstens die neue
Bundesgesetzgebung dieser Verkümmerung des Grundrechts der Verehelichung
ein sür allemal ein Ende gemacht hat.

Mittelbar wirken natürlich manche Staatseinrichtungen sehr merklich auf
Beschränkung oder Hinausschiebung der Ehen hin. Vor allem die allgemeine
Wehrpflicht, insofern sie die Zeit des selbständigen Besitzes und der völli-
gen wirthschaftlichen Unabhängigkeit hinausrückt. Doch braucht gerade aus
diesem Gesichtspunkt der Einfluß, der ihre gegenwärtige starke Anspannung
auf die Masse des Volkes übt. am wenigsten beklagt zu werden. Verfrühte
Ehen legen leicht den Grund zu sorgloser, nachlässiger Wirthschaft, welche
der Zahl der Kinder nicht einmal die der vorhandenen elterlichen Erwerbs¬
kraft ensprechende Versorgung gegenüberstellt.

In älteren, gewaltsameren historischen Epochen haben Massenauszüge
einer vorhandenen oder drohenden örtlichen Uebervölkerung oft den erwünsch¬
ten Abfluß verschafft. Auch in unserer Zeit wirkt die Auswanderung noch
auf diese Weise; besonders deutlich z. B. in Irland, dessen Zustände sie


setzlich erlaubt ist und viele ärmere Paare in der Aussicht auf sie heirathen
— etwa so, wie in England und anderen Paradiesen der Zwangsarmen¬
pflege in der Aussicht auf öffentliche Almosen. Aber auch in dem civilisir-
testen Staate der antiken Welt, in Athen war die Aussetzung Neugeborener
ein gesetzliches Recht des Vaters. Plato nahm diese Praxis unter die Grund¬
säulen seines idealen Staats auf, und Aristoteles, der große politische Den¬
ker des Alterthums, sah nicht ein, was vom sittlichen Standpunkt gegen
die verwandte Praxis der Entfernung Ungeborener einzuwenden sein sollte.
Uebervölkerungs-Besorgnisse spukten eben auch damals schon, wie heute, in
ängstlichen und voraussichtigen Köpfen. Man könnte sagen, berechtigter
damals als heute, weil ein verhältnißmäßig so kleiner Theil der Erde erst
bekannt, und dieser in seiner Bewohnbarkeit für Griechen obendrein durch die
nationale Abschließung gegen alle Fremden eingeengt war.

Dergleichen widerstreitet peinlich den modernen Begriffen von menschen¬
würdiger Freiheit und Selbstbestimmung.

Dasselbe muß von den gesetzlichen Erschwerungen des Heirathens gelten,
welche bis vor kurzem noch in einer größeren Zahl deutscher Staaten bestan¬
den, und deren liebevolle eingehende Betrachtung noch eine der Schwächen
einer jetzt aussterbenden Generation deutscher staatswissenschaftlicher Gelehrten
wie z. B. Robert Mohl's ausmachte. Zustimmung der Gemeinde oder der
Staatsbehörde, Vorbedingung eines gewissen Alters, Erforderniß eines Gut¬
habens in der Sparcasse oder des Eintritts in eine Krankheits-, Alters- und
Lebens-Versicherungsanstalt — alle diese Clauseln haben theils wirklich be¬
standen, theils sind sie von Theoretikern dringend vorgeschlagen und um¬
ständlich begründet worden, bis für Norddeutschland wenigstens die neue
Bundesgesetzgebung dieser Verkümmerung des Grundrechts der Verehelichung
ein sür allemal ein Ende gemacht hat.

Mittelbar wirken natürlich manche Staatseinrichtungen sehr merklich auf
Beschränkung oder Hinausschiebung der Ehen hin. Vor allem die allgemeine
Wehrpflicht, insofern sie die Zeit des selbständigen Besitzes und der völli-
gen wirthschaftlichen Unabhängigkeit hinausrückt. Doch braucht gerade aus
diesem Gesichtspunkt der Einfluß, der ihre gegenwärtige starke Anspannung
auf die Masse des Volkes übt. am wenigsten beklagt zu werden. Verfrühte
Ehen legen leicht den Grund zu sorgloser, nachlässiger Wirthschaft, welche
der Zahl der Kinder nicht einmal die der vorhandenen elterlichen Erwerbs¬
kraft ensprechende Versorgung gegenüberstellt.

In älteren, gewaltsameren historischen Epochen haben Massenauszüge
einer vorhandenen oder drohenden örtlichen Uebervölkerung oft den erwünsch¬
ten Abfluß verschafft. Auch in unserer Zeit wirkt die Auswanderung noch
auf diese Weise; besonders deutlich z. B. in Irland, dessen Zustände sie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/70>, abgerufen am 01.09.2024.