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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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Nahrungsmittel nur in den Stufen 1, 2, 3, 4, 5, 6 u. s. f. zu. Mit andern
Worten: Die Vermehrung der Bevölkerung strebe beständig die Vermehrung
der Nahrungsmittel zu überholen. Daß jene diese thatsächlich überhole, hat
Malthus natürlich nicht behauptet, denn das wäre handgreiflicher Unsinn ge¬
wesen. Mehr Menschen, als leben konnten, haben noch nie gelebt. Gleich¬
wohl geht im äußersten Zirkel derer, welche sich mit dem Problem der Be¬
völkerung befassen, noch immer die Meinung im Schwange, dies sei die eigent¬
liche Malthus'sche Lehre. Malthus umschrieb mit seinem Satze bloß in Be¬
zug auf den Menschen die allgemeine physiologische Tendenz, und sah dieselbe
darin bestätigt, daß in allen Ländern zu allen Zeiten Zunahme des Nah¬
rungsmittelvorraths, also z. B. reichliche Ernten, auf der Stelle auch Zu¬
nahme der Bevölkerung durch mehr Ehen und Geburten nach sich ziehn.
Diesem nachdrängen der Volkszcchl, das ohne hinlängliche Voraussicht etwa
eintretender Rückschläge geschehe, sah er in der Hauptsache keinen andern Damm
gesetzt, als vergrößerte Sterblichkeit durch Mangel, Elend, Verwahrlosung,
Laster, Verbrechen, Krieg u. s. f. Allerdings unterschied auch er schon den
Menschen insofern vom Thier und namentlich von der Pflanze, als er neben
dieser Wiederzerstörung der überzählig in die Welt gesetzten Keime hier noch
eine andere Abhilfe gegen Uebervölkerung thätig sah: die Selbstbeherr¬
schung, welche aus der Berechnung fließt, daß für die hervorzubringenden Kin¬
der nicht mit Sicherheit der gehörige Unterhalt zu schaffen sei. Allein er
glaubte der Wirsamkeit dieser Schranke keinen großen Umfang beilegen zu
dürfen. Als er seine Gedanken zuerst niederschrieb, sah er den gedankenlosen
Vermehrungstrieb in England eben, unterstützt durch eine grade dazu auf¬
munternde Zwangsarmenpflege, in voller Blüthe; er war gewissermaßen der
Erste, dem sich die Ansammlung industrieller Arbeitermassen von dieser beun¬
ruhigenden Seite zeigte, und dazu war die Entfesselung aller volkstümlichen
Leidenschaften jenseits des Canals noch frisch in seinem Gedächtniß. Er
scheute daher vor einer crasser Ausprägung seiner Besorgnisse nicht zurück,
um nur überhaupt Eindruck zu machen. Der vielangeführte grausam klingende
Ausspruch, daß nicht für jeden neuen Ankömmling an der Tafel der Natur auch
ein Platz belegt sei, und daß, wer sich dennoch einstelle, gewärtigen müsse sie
ihr Hausrecht gebrauchen zu sehen -- diese bloße Constatirung einer physisch¬
socialen Thatsache, wenn man in den wirklichen Sinn eingeht, wurde in der
später umfassenden Begründung der anfangs nur flugschriftenhaft entwickelten
Lehre gestrichen, weil sie so viel unvorhergesehenen Anstoß erregt hatte. Aber
hinsichtlich des wesentlichen Inhalts seiner Lehre erklärte Malthus noch in
der Einleitung zu seinen 1820 erschienenen Grundsätzen der Wirthschaftslehre,
nie sei ihm der geringste Zweifel über denselben beigekommen.

Völlig neu, wie man sich denken kann, war seine Auffassung keineswegs.


Nahrungsmittel nur in den Stufen 1, 2, 3, 4, 5, 6 u. s. f. zu. Mit andern
Worten: Die Vermehrung der Bevölkerung strebe beständig die Vermehrung
der Nahrungsmittel zu überholen. Daß jene diese thatsächlich überhole, hat
Malthus natürlich nicht behauptet, denn das wäre handgreiflicher Unsinn ge¬
wesen. Mehr Menschen, als leben konnten, haben noch nie gelebt. Gleich¬
wohl geht im äußersten Zirkel derer, welche sich mit dem Problem der Be¬
völkerung befassen, noch immer die Meinung im Schwange, dies sei die eigent¬
liche Malthus'sche Lehre. Malthus umschrieb mit seinem Satze bloß in Be¬
zug auf den Menschen die allgemeine physiologische Tendenz, und sah dieselbe
darin bestätigt, daß in allen Ländern zu allen Zeiten Zunahme des Nah¬
rungsmittelvorraths, also z. B. reichliche Ernten, auf der Stelle auch Zu¬
nahme der Bevölkerung durch mehr Ehen und Geburten nach sich ziehn.
Diesem nachdrängen der Volkszcchl, das ohne hinlängliche Voraussicht etwa
eintretender Rückschläge geschehe, sah er in der Hauptsache keinen andern Damm
gesetzt, als vergrößerte Sterblichkeit durch Mangel, Elend, Verwahrlosung,
Laster, Verbrechen, Krieg u. s. f. Allerdings unterschied auch er schon den
Menschen insofern vom Thier und namentlich von der Pflanze, als er neben
dieser Wiederzerstörung der überzählig in die Welt gesetzten Keime hier noch
eine andere Abhilfe gegen Uebervölkerung thätig sah: die Selbstbeherr¬
schung, welche aus der Berechnung fließt, daß für die hervorzubringenden Kin¬
der nicht mit Sicherheit der gehörige Unterhalt zu schaffen sei. Allein er
glaubte der Wirsamkeit dieser Schranke keinen großen Umfang beilegen zu
dürfen. Als er seine Gedanken zuerst niederschrieb, sah er den gedankenlosen
Vermehrungstrieb in England eben, unterstützt durch eine grade dazu auf¬
munternde Zwangsarmenpflege, in voller Blüthe; er war gewissermaßen der
Erste, dem sich die Ansammlung industrieller Arbeitermassen von dieser beun¬
ruhigenden Seite zeigte, und dazu war die Entfesselung aller volkstümlichen
Leidenschaften jenseits des Canals noch frisch in seinem Gedächtniß. Er
scheute daher vor einer crasser Ausprägung seiner Besorgnisse nicht zurück,
um nur überhaupt Eindruck zu machen. Der vielangeführte grausam klingende
Ausspruch, daß nicht für jeden neuen Ankömmling an der Tafel der Natur auch
ein Platz belegt sei, und daß, wer sich dennoch einstelle, gewärtigen müsse sie
ihr Hausrecht gebrauchen zu sehen — diese bloße Constatirung einer physisch¬
socialen Thatsache, wenn man in den wirklichen Sinn eingeht, wurde in der
später umfassenden Begründung der anfangs nur flugschriftenhaft entwickelten
Lehre gestrichen, weil sie so viel unvorhergesehenen Anstoß erregt hatte. Aber
hinsichtlich des wesentlichen Inhalts seiner Lehre erklärte Malthus noch in
der Einleitung zu seinen 1820 erschienenen Grundsätzen der Wirthschaftslehre,
nie sei ihm der geringste Zweifel über denselben beigekommen.

Völlig neu, wie man sich denken kann, war seine Auffassung keineswegs.


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[0067] Nahrungsmittel nur in den Stufen 1, 2, 3, 4, 5, 6 u. s. f. zu. Mit andern Worten: Die Vermehrung der Bevölkerung strebe beständig die Vermehrung der Nahrungsmittel zu überholen. Daß jene diese thatsächlich überhole, hat Malthus natürlich nicht behauptet, denn das wäre handgreiflicher Unsinn ge¬ wesen. Mehr Menschen, als leben konnten, haben noch nie gelebt. Gleich¬ wohl geht im äußersten Zirkel derer, welche sich mit dem Problem der Be¬ völkerung befassen, noch immer die Meinung im Schwange, dies sei die eigent¬ liche Malthus'sche Lehre. Malthus umschrieb mit seinem Satze bloß in Be¬ zug auf den Menschen die allgemeine physiologische Tendenz, und sah dieselbe darin bestätigt, daß in allen Ländern zu allen Zeiten Zunahme des Nah¬ rungsmittelvorraths, also z. B. reichliche Ernten, auf der Stelle auch Zu¬ nahme der Bevölkerung durch mehr Ehen und Geburten nach sich ziehn. Diesem nachdrängen der Volkszcchl, das ohne hinlängliche Voraussicht etwa eintretender Rückschläge geschehe, sah er in der Hauptsache keinen andern Damm gesetzt, als vergrößerte Sterblichkeit durch Mangel, Elend, Verwahrlosung, Laster, Verbrechen, Krieg u. s. f. Allerdings unterschied auch er schon den Menschen insofern vom Thier und namentlich von der Pflanze, als er neben dieser Wiederzerstörung der überzählig in die Welt gesetzten Keime hier noch eine andere Abhilfe gegen Uebervölkerung thätig sah: die Selbstbeherr¬ schung, welche aus der Berechnung fließt, daß für die hervorzubringenden Kin¬ der nicht mit Sicherheit der gehörige Unterhalt zu schaffen sei. Allein er glaubte der Wirsamkeit dieser Schranke keinen großen Umfang beilegen zu dürfen. Als er seine Gedanken zuerst niederschrieb, sah er den gedankenlosen Vermehrungstrieb in England eben, unterstützt durch eine grade dazu auf¬ munternde Zwangsarmenpflege, in voller Blüthe; er war gewissermaßen der Erste, dem sich die Ansammlung industrieller Arbeitermassen von dieser beun¬ ruhigenden Seite zeigte, und dazu war die Entfesselung aller volkstümlichen Leidenschaften jenseits des Canals noch frisch in seinem Gedächtniß. Er scheute daher vor einer crasser Ausprägung seiner Besorgnisse nicht zurück, um nur überhaupt Eindruck zu machen. Der vielangeführte grausam klingende Ausspruch, daß nicht für jeden neuen Ankömmling an der Tafel der Natur auch ein Platz belegt sei, und daß, wer sich dennoch einstelle, gewärtigen müsse sie ihr Hausrecht gebrauchen zu sehen — diese bloße Constatirung einer physisch¬ socialen Thatsache, wenn man in den wirklichen Sinn eingeht, wurde in der später umfassenden Begründung der anfangs nur flugschriftenhaft entwickelten Lehre gestrichen, weil sie so viel unvorhergesehenen Anstoß erregt hatte. Aber hinsichtlich des wesentlichen Inhalts seiner Lehre erklärte Malthus noch in der Einleitung zu seinen 1820 erschienenen Grundsätzen der Wirthschaftslehre, nie sei ihm der geringste Zweifel über denselben beigekommen. Völlig neu, wie man sich denken kann, war seine Auffassung keineswegs.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/67>, abgerufen am 01.09.2024.