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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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folglich der Geburt des modernen Proletariats, das sich um Fabriken, Hütten
und Gruben häuft. Ihm war die bestehende Armengesetzgebung aus der Zeit
der Königin Elisabeth nicht entfernt gewachsen; im Gegentheil, wie die ört¬
liche Armenpflege sich auf der Grundlage der Armensteuer entwickelt hatte,
zog sie das Elend nur groß, anstatt es zu mindern. Das alles nahm
Malthus wahr und fand es, wo nicht verkehrt, doch einseitig, wenn die junge
Schule feines eigenen großen Lehrers Adam Smith ihre feurigen Anklage¬
reden lediglich gegen die Fesseln richtete, welche Staat und Herkommen der
freien Arbeit angelegt hatten. Eine nothwendige Ergänzung dünkte es ihm
auch den Leichtsinn der Menschen in der Vermehrung ihres eigenen Ge¬
schlechts zu brandmarken. Die wüste Entfesselung aller Begierden, deren Zeuge
er eben in dem revolutionären Frankreich gewesen war, mochte dazu beitragen,
seine Anschauung übermäßig schwarz zu färben.

So entstand die Malthus'sche Lehre von der Bevölkerung, die häufiger
mißverstanden als verstanden worden ist, selbst von hervorragenden Fachge¬
lehrten, im ganzen mehr Gegner als Anhänger gefunden hat. und ihrem
Kerne nach heute doch als unanfechtbares Eigenthum der Wissenschaft gelten
kann. Sie stellte als Voraussetzung hin. daß die Natur besser für die Er¬
haltung der Arten, als für die der Jndividium gesorgt habe; indem eine fast
unbegrenzte Fähigkeit zur Fortpflanzung in jedes Wesen gelegt sei. und je
einfacher dessen Organisation, je geringer dessen Begabung, je schwächer folglich
seine Kraft feindlichen Einflüssen zu widerstehen sei, desto mehr Keime gingen
von ihm aus. um die Gattung nicht untergehen zu lassen. Diese Voraus-
setzung wird von der heutigen Lehre der Veränderlichkeit der Arten und ihrem
allmäligen Uebergang in einander, falls sie sich behauptet, die entsprechende
Berichtigung erfahren müssen. Es ist dabei jedoch von Interesse zu be¬
merken, daß der Urheber dieser Lehre, Darwin, aus Malthus Werk eine
Hauptanregung zur Aufstellung derselben empfangen zu haben bezeugt. Wie
es um die auf Erhaltung der Arten gerichtete angebliche Absicht der Natur
übrigens auch stehen möge, die Thatsache jener physiologischen Tendenz an sich
ist nicht zu bestreiten. Der Fortpflanzungstrieb ist in allen lebenden Wesen
stark, und wenn ihm nicht einengende Hindernisse entgegentraten, würde die
Oberfläche der Erde rasch von den begünstigten Arten überfüllt sein. Dies
gilt auch vom Menschen. Angenommen, es träte nichts der Entwickelung
seiner natürlichen Fruchtbarkeit in den Weg, so würde die Kopfzahl unzwei¬
felhaft in geometrischer Progression wachsen. Dies ist die erste Hälfte dessen,
was Malthus behauptete. Er überschlug dann die mögliche, muthmaßliche
Zunahme der Nahrungsmittel, und glaubte zu finden, daß diese nur in arith¬
metischer Progression zu wachsen versprechen. Also wenn die Zahl der
Menschen wachse von 1 auf 2, 4, 8, 16, 32 u. f. f.. so nehme die Masse der


folglich der Geburt des modernen Proletariats, das sich um Fabriken, Hütten
und Gruben häuft. Ihm war die bestehende Armengesetzgebung aus der Zeit
der Königin Elisabeth nicht entfernt gewachsen; im Gegentheil, wie die ört¬
liche Armenpflege sich auf der Grundlage der Armensteuer entwickelt hatte,
zog sie das Elend nur groß, anstatt es zu mindern. Das alles nahm
Malthus wahr und fand es, wo nicht verkehrt, doch einseitig, wenn die junge
Schule feines eigenen großen Lehrers Adam Smith ihre feurigen Anklage¬
reden lediglich gegen die Fesseln richtete, welche Staat und Herkommen der
freien Arbeit angelegt hatten. Eine nothwendige Ergänzung dünkte es ihm
auch den Leichtsinn der Menschen in der Vermehrung ihres eigenen Ge¬
schlechts zu brandmarken. Die wüste Entfesselung aller Begierden, deren Zeuge
er eben in dem revolutionären Frankreich gewesen war, mochte dazu beitragen,
seine Anschauung übermäßig schwarz zu färben.

So entstand die Malthus'sche Lehre von der Bevölkerung, die häufiger
mißverstanden als verstanden worden ist, selbst von hervorragenden Fachge¬
lehrten, im ganzen mehr Gegner als Anhänger gefunden hat. und ihrem
Kerne nach heute doch als unanfechtbares Eigenthum der Wissenschaft gelten
kann. Sie stellte als Voraussetzung hin. daß die Natur besser für die Er¬
haltung der Arten, als für die der Jndividium gesorgt habe; indem eine fast
unbegrenzte Fähigkeit zur Fortpflanzung in jedes Wesen gelegt sei. und je
einfacher dessen Organisation, je geringer dessen Begabung, je schwächer folglich
seine Kraft feindlichen Einflüssen zu widerstehen sei, desto mehr Keime gingen
von ihm aus. um die Gattung nicht untergehen zu lassen. Diese Voraus-
setzung wird von der heutigen Lehre der Veränderlichkeit der Arten und ihrem
allmäligen Uebergang in einander, falls sie sich behauptet, die entsprechende
Berichtigung erfahren müssen. Es ist dabei jedoch von Interesse zu be¬
merken, daß der Urheber dieser Lehre, Darwin, aus Malthus Werk eine
Hauptanregung zur Aufstellung derselben empfangen zu haben bezeugt. Wie
es um die auf Erhaltung der Arten gerichtete angebliche Absicht der Natur
übrigens auch stehen möge, die Thatsache jener physiologischen Tendenz an sich
ist nicht zu bestreiten. Der Fortpflanzungstrieb ist in allen lebenden Wesen
stark, und wenn ihm nicht einengende Hindernisse entgegentraten, würde die
Oberfläche der Erde rasch von den begünstigten Arten überfüllt sein. Dies
gilt auch vom Menschen. Angenommen, es träte nichts der Entwickelung
seiner natürlichen Fruchtbarkeit in den Weg, so würde die Kopfzahl unzwei¬
felhaft in geometrischer Progression wachsen. Dies ist die erste Hälfte dessen,
was Malthus behauptete. Er überschlug dann die mögliche, muthmaßliche
Zunahme der Nahrungsmittel, und glaubte zu finden, daß diese nur in arith¬
metischer Progression zu wachsen versprechen. Also wenn die Zahl der
Menschen wachse von 1 auf 2, 4, 8, 16, 32 u. f. f.. so nehme die Masse der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/66>, abgerufen am 01.09.2024.