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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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ohne erheblichen Einspruch geblieben ist, so daß. wenn auch eine überwiegende
Wahrscheinlichkeit aus die überwiegende Zahl und das Uebergewicht jener
Stimmen, doch keine objective Gewißheit zu gründen ist.

Entscheidender scheint Folgendes: man hat Gründe, das Darmstädter für
das erstgemalte zu halten. Ist es aber das erstgemalte, so kann es nicht eine
Copie des Dresdener sein, sondern, da überhaupt nur die Frage ist, welches
von beiden Exemplaren das ächte sei, und ob nicht beide ächt sind, so kann,
salls die Priorität des Darmstädter Bildes constatirt ist. dasselbe nur für
das ursprünglich ächte Exemplar gelten, was zwar nicht ausschließt, daß das
Dresdener Exemplar von der Hand desselben Künstlers, also auch ächt sei, '
aber doch für das Dresdener noch eine Frage übrig läßt, die danach für das
Darmstädter nicht mehr besteht. Die Gründe aber, das Darmstädter Exemplar
für das früher gemalte zu halten, liegen in der Beschaffenheit der Verände¬
rungen, die zwischen beiden Bildern bestehen. -- Heben wir hier nur das Auf¬
fälligste in dieser Hinsicht hervor. Vom Darmstädter zum Dresdener Bilde
übergehend, sieht man die Madonna, so zu sagen, aus einem Zimmer, dessen
Decke fast auf ihrer Krone lastet, in ein anderes mit frei und hoch sich dar¬
über wölbender Decke treten; und das letzte Verhältniß erscheint so viel vor¬
theilhafter, daß man sich nicht wohl denken kann, der Künstler habe die
Madonna die Bewegung in umgekehrter Richtung machen lassen, wie es der
Fall wäre, wenn das Dresdener Exemplar das erstgemalte, das Darmstädter
das zweitgemalte ist. Etwas Entsprechendes, als der Madonna, begegnet
aber auch den Nebenfiguren, die vor den Seitenpfeilern der Nische knieen. Im
Darmstädter Bilde lasten die Tragsteine dieser Pfeiler fast auf den Köpfen
der darunter Knieenden, sodaß diese sich nicht erheben können, ohne unmittel¬
bar anzustoßen; im Dresdener Bilde sind die Tragsteine höher hinaufgerückt,
sodaß eine freiere Erhebung möglich ist. Im Darmstädter Bilde ist die Nische
so eng. daß die Madonna nicht mit beiden Armen darin Platz hat, sondern
mit dem einen Arme darüber hinausreicht und an den Tragstein des Pfeilers
dieser Seite anstößt, im Dresdener Bilde ist die Nische weit genug, um die
Madonna mit ihren beiden Armen ganz zu fassen. Kurz, die ganzen Verhält-
nisse des Bildinhaltes sind im Darmstädter Exemplare, wie ich sagte, gedrück¬
ter, und der Vortheil des Dresdener Exemplares ist in dieser Hinsicht so
entschieden -- ich appellire in dieser Hinsicht, einem ganz isolirt stehenden
Urtheile Woltmanns gegenüber, auf das allgemeine Urtheil -- daß man
nicht wohl anders kann, als annehmen, der Künstler habe sich im Dresde¬
ner Bilde als dem zweitgemalten verbessernd über die unvorthetlhaften Ver¬
hältnisse des Darmstädter Exemplares erhoben. -- Nur folgender Gedanke
würde sich noch etwa damit vertragen, daß doch das Darmstädter Exem¬
plar das zweitgemalte sei: Wie, wenn das Darmstädter Exemplar als


ohne erheblichen Einspruch geblieben ist, so daß. wenn auch eine überwiegende
Wahrscheinlichkeit aus die überwiegende Zahl und das Uebergewicht jener
Stimmen, doch keine objective Gewißheit zu gründen ist.

Entscheidender scheint Folgendes: man hat Gründe, das Darmstädter für
das erstgemalte zu halten. Ist es aber das erstgemalte, so kann es nicht eine
Copie des Dresdener sein, sondern, da überhaupt nur die Frage ist, welches
von beiden Exemplaren das ächte sei, und ob nicht beide ächt sind, so kann,
salls die Priorität des Darmstädter Bildes constatirt ist. dasselbe nur für
das ursprünglich ächte Exemplar gelten, was zwar nicht ausschließt, daß das
Dresdener Exemplar von der Hand desselben Künstlers, also auch ächt sei, '
aber doch für das Dresdener noch eine Frage übrig läßt, die danach für das
Darmstädter nicht mehr besteht. Die Gründe aber, das Darmstädter Exemplar
für das früher gemalte zu halten, liegen in der Beschaffenheit der Verände¬
rungen, die zwischen beiden Bildern bestehen. — Heben wir hier nur das Auf¬
fälligste in dieser Hinsicht hervor. Vom Darmstädter zum Dresdener Bilde
übergehend, sieht man die Madonna, so zu sagen, aus einem Zimmer, dessen
Decke fast auf ihrer Krone lastet, in ein anderes mit frei und hoch sich dar¬
über wölbender Decke treten; und das letzte Verhältniß erscheint so viel vor¬
theilhafter, daß man sich nicht wohl denken kann, der Künstler habe die
Madonna die Bewegung in umgekehrter Richtung machen lassen, wie es der
Fall wäre, wenn das Dresdener Exemplar das erstgemalte, das Darmstädter
das zweitgemalte ist. Etwas Entsprechendes, als der Madonna, begegnet
aber auch den Nebenfiguren, die vor den Seitenpfeilern der Nische knieen. Im
Darmstädter Bilde lasten die Tragsteine dieser Pfeiler fast auf den Köpfen
der darunter Knieenden, sodaß diese sich nicht erheben können, ohne unmittel¬
bar anzustoßen; im Dresdener Bilde sind die Tragsteine höher hinaufgerückt,
sodaß eine freiere Erhebung möglich ist. Im Darmstädter Bilde ist die Nische
so eng. daß die Madonna nicht mit beiden Armen darin Platz hat, sondern
mit dem einen Arme darüber hinausreicht und an den Tragstein des Pfeilers
dieser Seite anstößt, im Dresdener Bilde ist die Nische weit genug, um die
Madonna mit ihren beiden Armen ganz zu fassen. Kurz, die ganzen Verhält-
nisse des Bildinhaltes sind im Darmstädter Exemplare, wie ich sagte, gedrück¬
ter, und der Vortheil des Dresdener Exemplares ist in dieser Hinsicht so
entschieden — ich appellire in dieser Hinsicht, einem ganz isolirt stehenden
Urtheile Woltmanns gegenüber, auf das allgemeine Urtheil — daß man
nicht wohl anders kann, als annehmen, der Künstler habe sich im Dresde¬
ner Bilde als dem zweitgemalten verbessernd über die unvorthetlhaften Ver¬
hältnisse des Darmstädter Exemplares erhoben. — Nur folgender Gedanke
würde sich noch etwa damit vertragen, daß doch das Darmstädter Exem¬
plar das zweitgemalte sei: Wie, wenn das Darmstädter Exemplar als


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[0054] ohne erheblichen Einspruch geblieben ist, so daß. wenn auch eine überwiegende Wahrscheinlichkeit aus die überwiegende Zahl und das Uebergewicht jener Stimmen, doch keine objective Gewißheit zu gründen ist. Entscheidender scheint Folgendes: man hat Gründe, das Darmstädter für das erstgemalte zu halten. Ist es aber das erstgemalte, so kann es nicht eine Copie des Dresdener sein, sondern, da überhaupt nur die Frage ist, welches von beiden Exemplaren das ächte sei, und ob nicht beide ächt sind, so kann, salls die Priorität des Darmstädter Bildes constatirt ist. dasselbe nur für das ursprünglich ächte Exemplar gelten, was zwar nicht ausschließt, daß das Dresdener Exemplar von der Hand desselben Künstlers, also auch ächt sei, ' aber doch für das Dresdener noch eine Frage übrig läßt, die danach für das Darmstädter nicht mehr besteht. Die Gründe aber, das Darmstädter Exemplar für das früher gemalte zu halten, liegen in der Beschaffenheit der Verände¬ rungen, die zwischen beiden Bildern bestehen. — Heben wir hier nur das Auf¬ fälligste in dieser Hinsicht hervor. Vom Darmstädter zum Dresdener Bilde übergehend, sieht man die Madonna, so zu sagen, aus einem Zimmer, dessen Decke fast auf ihrer Krone lastet, in ein anderes mit frei und hoch sich dar¬ über wölbender Decke treten; und das letzte Verhältniß erscheint so viel vor¬ theilhafter, daß man sich nicht wohl denken kann, der Künstler habe die Madonna die Bewegung in umgekehrter Richtung machen lassen, wie es der Fall wäre, wenn das Dresdener Exemplar das erstgemalte, das Darmstädter das zweitgemalte ist. Etwas Entsprechendes, als der Madonna, begegnet aber auch den Nebenfiguren, die vor den Seitenpfeilern der Nische knieen. Im Darmstädter Bilde lasten die Tragsteine dieser Pfeiler fast auf den Köpfen der darunter Knieenden, sodaß diese sich nicht erheben können, ohne unmittel¬ bar anzustoßen; im Dresdener Bilde sind die Tragsteine höher hinaufgerückt, sodaß eine freiere Erhebung möglich ist. Im Darmstädter Bilde ist die Nische so eng. daß die Madonna nicht mit beiden Armen darin Platz hat, sondern mit dem einen Arme darüber hinausreicht und an den Tragstein des Pfeilers dieser Seite anstößt, im Dresdener Bilde ist die Nische weit genug, um die Madonna mit ihren beiden Armen ganz zu fassen. Kurz, die ganzen Verhält- nisse des Bildinhaltes sind im Darmstädter Exemplare, wie ich sagte, gedrück¬ ter, und der Vortheil des Dresdener Exemplares ist in dieser Hinsicht so entschieden — ich appellire in dieser Hinsicht, einem ganz isolirt stehenden Urtheile Woltmanns gegenüber, auf das allgemeine Urtheil — daß man nicht wohl anders kann, als annehmen, der Künstler habe sich im Dresde¬ ner Bilde als dem zweitgemalten verbessernd über die unvorthetlhaften Ver¬ hältnisse des Darmstädter Exemplares erhoben. — Nur folgender Gedanke würde sich noch etwa damit vertragen, daß doch das Darmstädter Exem¬ plar das zweitgemalte sei: Wie, wenn das Darmstädter Exemplar als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/54>, abgerufen am 27.07.2024.