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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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schieben wollen -- auch die Pulverung von Knochen zu Düngungszwecken,
die Hervorbringung des sogenannten Knochenmehls mit der Hand. Dies
hatte man schon seit 1821 in Southwell gethan und während der Nothjahre
1848--47 that man es zu Andover. Aber es fand sich, daß einer oder zwei
von den Insassen des dortigen Werkhauses in einer merkwürdigen Art von
Atavismus den Geschmack unserer wilden Voreltern für das Mark thierischer
Knochen besaßen. Sie verschlangen gierig das längst faule Mark in den
ihnen zur Zerkleinerung übergebenen Gebeinen und riefen damit einen rasch
sich fortpflanzenden Schein des Unwillens in ganz England hervor. So
sehr Sir George Nicholls persönlich sich auch sträubte, die Commissäre mußten
ein allgemeines Verbot erlassen, Knochenpulverung als Armenbeschäftigung
in Anwendung zu bringen.

Nur für ungewöhnliche Nothstände freilich will ja auch er solche Be¬
schäftigungen außer dem Werkhause zulassen. Sonst besteht er unbedingt auf
der Werkaus-Probe. Er meint (II. 372), Unterstützung Arbeitsfähiger in
ihrer eigenen Wohnung enthalte niemals den Sporn in sich, auf den Alles
ankomme: sich so lange als möglich (und sobald als möglich wieder)Mbst
zu erhalten. Aber er gibt andererseits (II., 330) selbst zu, daß der Arme im
Werkhause besser gespeist, gekleidet, beherbergt, in Krankheitsfällen gepflegt,
in der Arbeit minder angestrengt wird, als muthmaßlich und durchschnittlich
der Fall bei Selbsterhaltung sein würde. Hier ist also doch auch ein Reiz
vorhanden, der in die Abhängigkeit von fremder Hilfe hineinlockt. Ihm das
Gegengewicht zu halten, muß die Freiheitsbeschränkung im Werkhause un¬
gewöhnlich hart und abschreckend sein. Sie wird dadurch für eine Anzahl
Fälle unzweifelhaft zu hart. Für diejenigen Fälle aber, in denen noch Er¬
hebung aus dem Elend denkbar -- kann solche Abschneidung aller Freiheit
und Selbständigkeit für sie wohl der richtige Weg sein zur Rückkehr in eine
Existenz unabhängiger wirthschaftlicher Selbsterhaltung? Das wäre schwer
zu glauben. Der englische Werkhauszwang ist eine Ausgeburt verzweifelnder
Nothwehr gegen die natürlichen, unvermeidlichen Wirkungen jahrhundert¬
langen rechtlichen Unterstützungszwangs, mit einer gewissen Ursprünglichkeit
immerhin entstanden in einer aristokratisch gegliederten Gesellschaft wie der
britischen, aber kein System erfolgreicher Armenerziehung, wie dasjenige sein
muß, was den Pauperismus beschränken und allmälig abstellen will. Es kann
daher keine Rede davon sein, ihn auf Deutschland zu übertragen. Höchstens
kann eine verständige, modificirte Nachbildung hier und da in einer länd¬
lichen Gegend den Uebergang zu durchgreifender helfenden Umgestaltungen
abgeben. Für unsere Städte und mit der Zeit für unsere ganze Armen¬
pflege haben wir das wahre Muster, was die Organisation und die Grund¬
sätze der Behandlung der Armen betrifft, in dem bekannten Elberfelder System,


schieben wollen — auch die Pulverung von Knochen zu Düngungszwecken,
die Hervorbringung des sogenannten Knochenmehls mit der Hand. Dies
hatte man schon seit 1821 in Southwell gethan und während der Nothjahre
1848—47 that man es zu Andover. Aber es fand sich, daß einer oder zwei
von den Insassen des dortigen Werkhauses in einer merkwürdigen Art von
Atavismus den Geschmack unserer wilden Voreltern für das Mark thierischer
Knochen besaßen. Sie verschlangen gierig das längst faule Mark in den
ihnen zur Zerkleinerung übergebenen Gebeinen und riefen damit einen rasch
sich fortpflanzenden Schein des Unwillens in ganz England hervor. So
sehr Sir George Nicholls persönlich sich auch sträubte, die Commissäre mußten
ein allgemeines Verbot erlassen, Knochenpulverung als Armenbeschäftigung
in Anwendung zu bringen.

Nur für ungewöhnliche Nothstände freilich will ja auch er solche Be¬
schäftigungen außer dem Werkhause zulassen. Sonst besteht er unbedingt auf
der Werkaus-Probe. Er meint (II. 372), Unterstützung Arbeitsfähiger in
ihrer eigenen Wohnung enthalte niemals den Sporn in sich, auf den Alles
ankomme: sich so lange als möglich (und sobald als möglich wieder)Mbst
zu erhalten. Aber er gibt andererseits (II., 330) selbst zu, daß der Arme im
Werkhause besser gespeist, gekleidet, beherbergt, in Krankheitsfällen gepflegt,
in der Arbeit minder angestrengt wird, als muthmaßlich und durchschnittlich
der Fall bei Selbsterhaltung sein würde. Hier ist also doch auch ein Reiz
vorhanden, der in die Abhängigkeit von fremder Hilfe hineinlockt. Ihm das
Gegengewicht zu halten, muß die Freiheitsbeschränkung im Werkhause un¬
gewöhnlich hart und abschreckend sein. Sie wird dadurch für eine Anzahl
Fälle unzweifelhaft zu hart. Für diejenigen Fälle aber, in denen noch Er¬
hebung aus dem Elend denkbar — kann solche Abschneidung aller Freiheit
und Selbständigkeit für sie wohl der richtige Weg sein zur Rückkehr in eine
Existenz unabhängiger wirthschaftlicher Selbsterhaltung? Das wäre schwer
zu glauben. Der englische Werkhauszwang ist eine Ausgeburt verzweifelnder
Nothwehr gegen die natürlichen, unvermeidlichen Wirkungen jahrhundert¬
langen rechtlichen Unterstützungszwangs, mit einer gewissen Ursprünglichkeit
immerhin entstanden in einer aristokratisch gegliederten Gesellschaft wie der
britischen, aber kein System erfolgreicher Armenerziehung, wie dasjenige sein
muß, was den Pauperismus beschränken und allmälig abstellen will. Es kann
daher keine Rede davon sein, ihn auf Deutschland zu übertragen. Höchstens
kann eine verständige, modificirte Nachbildung hier und da in einer länd¬
lichen Gegend den Uebergang zu durchgreifender helfenden Umgestaltungen
abgeben. Für unsere Städte und mit der Zeit für unsere ganze Armen¬
pflege haben wir das wahre Muster, was die Organisation und die Grund¬
sätze der Behandlung der Armen betrifft, in dem bekannten Elberfelder System,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/508>, abgerufen am 18.12.2024.