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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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sich selbst größere Freiheit der Bewegung zu sichern, da das Anerbieten der
Aufnahme ins Werkhaus der Gesetzesvorschrift Genüge that und in den
meisten Fällen weiterer richterlicher Einmischung vorbeugte." Wie das Werk¬
haus in Southwell damals jedoch beschaffen war, konnte es keinem guten
Zwecke dienen. Es wurde daher mit Mauern umgeben, um den Ein- und
Ausgang controlirbar zu machen, geeigneten Verwaltern überwiesen, unter
eine strenge Hausordnung gestellt, welche die Geschlechter schied und auch sonst
die Insassen soviel wie möglich classificirte. Obgleich die Kost besser war als
durchschnittlich in einer Tagelöhnerfamilie, schreckten die auferlegten Beschrän¬
kungen der persönlichen Freiheit doch von dem Eintritt ohne Noth zurück;
"und so wurde das Anerbieten der Aufnahme ins Werkhaus für die Armen-
aufseher ein Prüfstein der wirklichen Hilssbedürftigkeit und ein Schutz für
das Kirchspiel." Im Jahre 1820/21 hatten noch 292^ Pfd. Se. ausgegeben
werden müssen, um arbeitsfähigen Armen Beschäftigung zu verschaffen; die
Summe fiel 1821/22 auf 91 Pfd. Se., 1822/23 aus 2^ Pfd. Se., und im
folgenden Jahre auf Null. Statt dessen wurde die Aufnahme ins Werkhaus
angeboten, aber höchstens in drei bis vier Fällen angenommen, und auch in
diesen nur auf kurze Zeit. Die Tagelöhner verließen darum das Kirchspiel
nicht, sondern gaben sich mehr Mühe, auf ihre eigene Hand Beschäftigung
zu finden, und die Landwirthe kamen ihnen darin insofern entgegen, als sie
darauf Bedacht nahmen, ihnen auch in flaueren Zeiten beständig Arbeit zu
geben. Allein nicht blos die Praxis des Beschäftigungverschaffens wurde auf diese
Weise abgestellt, sondern auch die noch schlimmere Praxis, Lohnzulagen aus der
Armencasse zu gewähren, oder auf andere Art aus dieser die Unzulänglichkeit
der Lohnsätze auszugleichen. Aehnlich, wenn auch nicht ganz so durchgreifend
reducirte man die Bezahlung der Miethen aus Armensteuermitteln. Der
ganze bewegliche Theil der Armenlast, d. h. der den noch ganz oder theil¬
weise arbeitsfähigen Personen zufallende, verringerte sich höchst bedeutend.
Auf der anderen Seite zog man zu der Tragung der öffentlichen Armenlast
Alles heran, nicht blos wie bisher die Wohlhabenderen. Es verschwand so,
wie unser Gewährsmann meint, die Vorstellung, daß die Armensteuer eine
Ausgleichung den Verschiedenheiten in der Vertheilung der Lebensgüter sei,
von der jeder Arme möglichst viel sich anzueignen suchen müsse, und es ent¬
wickelte sich unter den Aermeren ein edler Stolz, die Last mittragen zu helfen.
Sollte aber nicht andererseits gerade der erzwungene Beitrag zur Armenlast
in Solchen, die der Gefahr zu verarmen selber täglich ausgesetzt sind, leicht
das Gefühl eines rechtmäßigen eventuellen Anspruchs auf einen Theil der so
zusammengebrachten Almosen hervorrufen?

"Das Beispiel von Southwell und Bingham", bemerkt Sir George
Nicholls am Schlüsse seiner Darstellung mit gerechtem Selbstbewußtsein,


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sich selbst größere Freiheit der Bewegung zu sichern, da das Anerbieten der
Aufnahme ins Werkhaus der Gesetzesvorschrift Genüge that und in den
meisten Fällen weiterer richterlicher Einmischung vorbeugte." Wie das Werk¬
haus in Southwell damals jedoch beschaffen war, konnte es keinem guten
Zwecke dienen. Es wurde daher mit Mauern umgeben, um den Ein- und
Ausgang controlirbar zu machen, geeigneten Verwaltern überwiesen, unter
eine strenge Hausordnung gestellt, welche die Geschlechter schied und auch sonst
die Insassen soviel wie möglich classificirte. Obgleich die Kost besser war als
durchschnittlich in einer Tagelöhnerfamilie, schreckten die auferlegten Beschrän¬
kungen der persönlichen Freiheit doch von dem Eintritt ohne Noth zurück;
„und so wurde das Anerbieten der Aufnahme ins Werkhaus für die Armen-
aufseher ein Prüfstein der wirklichen Hilssbedürftigkeit und ein Schutz für
das Kirchspiel." Im Jahre 1820/21 hatten noch 292^ Pfd. Se. ausgegeben
werden müssen, um arbeitsfähigen Armen Beschäftigung zu verschaffen; die
Summe fiel 1821/22 auf 91 Pfd. Se., 1822/23 aus 2^ Pfd. Se., und im
folgenden Jahre auf Null. Statt dessen wurde die Aufnahme ins Werkhaus
angeboten, aber höchstens in drei bis vier Fällen angenommen, und auch in
diesen nur auf kurze Zeit. Die Tagelöhner verließen darum das Kirchspiel
nicht, sondern gaben sich mehr Mühe, auf ihre eigene Hand Beschäftigung
zu finden, und die Landwirthe kamen ihnen darin insofern entgegen, als sie
darauf Bedacht nahmen, ihnen auch in flaueren Zeiten beständig Arbeit zu
geben. Allein nicht blos die Praxis des Beschäftigungverschaffens wurde auf diese
Weise abgestellt, sondern auch die noch schlimmere Praxis, Lohnzulagen aus der
Armencasse zu gewähren, oder auf andere Art aus dieser die Unzulänglichkeit
der Lohnsätze auszugleichen. Aehnlich, wenn auch nicht ganz so durchgreifend
reducirte man die Bezahlung der Miethen aus Armensteuermitteln. Der
ganze bewegliche Theil der Armenlast, d. h. der den noch ganz oder theil¬
weise arbeitsfähigen Personen zufallende, verringerte sich höchst bedeutend.
Auf der anderen Seite zog man zu der Tragung der öffentlichen Armenlast
Alles heran, nicht blos wie bisher die Wohlhabenderen. Es verschwand so,
wie unser Gewährsmann meint, die Vorstellung, daß die Armensteuer eine
Ausgleichung den Verschiedenheiten in der Vertheilung der Lebensgüter sei,
von der jeder Arme möglichst viel sich anzueignen suchen müsse, und es ent¬
wickelte sich unter den Aermeren ein edler Stolz, die Last mittragen zu helfen.
Sollte aber nicht andererseits gerade der erzwungene Beitrag zur Armenlast
in Solchen, die der Gefahr zu verarmen selber täglich ausgesetzt sind, leicht
das Gefühl eines rechtmäßigen eventuellen Anspruchs auf einen Theil der so
zusammengebrachten Almosen hervorrufen?

„Das Beispiel von Southwell und Bingham", bemerkt Sir George
Nicholls am Schlüsse seiner Darstellung mit gerechtem Selbstbewußtsein,


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[0505] sich selbst größere Freiheit der Bewegung zu sichern, da das Anerbieten der Aufnahme ins Werkhaus der Gesetzesvorschrift Genüge that und in den meisten Fällen weiterer richterlicher Einmischung vorbeugte." Wie das Werk¬ haus in Southwell damals jedoch beschaffen war, konnte es keinem guten Zwecke dienen. Es wurde daher mit Mauern umgeben, um den Ein- und Ausgang controlirbar zu machen, geeigneten Verwaltern überwiesen, unter eine strenge Hausordnung gestellt, welche die Geschlechter schied und auch sonst die Insassen soviel wie möglich classificirte. Obgleich die Kost besser war als durchschnittlich in einer Tagelöhnerfamilie, schreckten die auferlegten Beschrän¬ kungen der persönlichen Freiheit doch von dem Eintritt ohne Noth zurück; „und so wurde das Anerbieten der Aufnahme ins Werkhaus für die Armen- aufseher ein Prüfstein der wirklichen Hilssbedürftigkeit und ein Schutz für das Kirchspiel." Im Jahre 1820/21 hatten noch 292^ Pfd. Se. ausgegeben werden müssen, um arbeitsfähigen Armen Beschäftigung zu verschaffen; die Summe fiel 1821/22 auf 91 Pfd. Se., 1822/23 aus 2^ Pfd. Se., und im folgenden Jahre auf Null. Statt dessen wurde die Aufnahme ins Werkhaus angeboten, aber höchstens in drei bis vier Fällen angenommen, und auch in diesen nur auf kurze Zeit. Die Tagelöhner verließen darum das Kirchspiel nicht, sondern gaben sich mehr Mühe, auf ihre eigene Hand Beschäftigung zu finden, und die Landwirthe kamen ihnen darin insofern entgegen, als sie darauf Bedacht nahmen, ihnen auch in flaueren Zeiten beständig Arbeit zu geben. Allein nicht blos die Praxis des Beschäftigungverschaffens wurde auf diese Weise abgestellt, sondern auch die noch schlimmere Praxis, Lohnzulagen aus der Armencasse zu gewähren, oder auf andere Art aus dieser die Unzulänglichkeit der Lohnsätze auszugleichen. Aehnlich, wenn auch nicht ganz so durchgreifend reducirte man die Bezahlung der Miethen aus Armensteuermitteln. Der ganze bewegliche Theil der Armenlast, d. h. der den noch ganz oder theil¬ weise arbeitsfähigen Personen zufallende, verringerte sich höchst bedeutend. Auf der anderen Seite zog man zu der Tragung der öffentlichen Armenlast Alles heran, nicht blos wie bisher die Wohlhabenderen. Es verschwand so, wie unser Gewährsmann meint, die Vorstellung, daß die Armensteuer eine Ausgleichung den Verschiedenheiten in der Vertheilung der Lebensgüter sei, von der jeder Arme möglichst viel sich anzueignen suchen müsse, und es ent¬ wickelte sich unter den Aermeren ein edler Stolz, die Last mittragen zu helfen. Sollte aber nicht andererseits gerade der erzwungene Beitrag zur Armenlast in Solchen, die der Gefahr zu verarmen selber täglich ausgesetzt sind, leicht das Gefühl eines rechtmäßigen eventuellen Anspruchs auf einen Theil der so zusammengebrachten Almosen hervorrufen? „Das Beispiel von Southwell und Bingham", bemerkt Sir George Nicholls am Schlüsse seiner Darstellung mit gerechtem Selbstbewußtsein, 63 *

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/505>, abgerufen am 01.09.2024.