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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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schüttelnder Kämpfe sein wird, auf welche sich die verschiedenen Parteien
schon jetzt vorbereiten werden. Unter diesen Parteien wird die republikanische
die stärkste und gefährlichste sein, man darf annehmen, daß fast die Gesammt-
zahl derer, die beim Plebiscit mit nein gestimmt haben, ihr angehört.

Von 10^ Millionen Stimmberechtigten haben 8,858.401 ihre Stimme
abgegeben, 7.308,535 bejahend, 1,549,866 verneinend, die reine Majorität für
Napoleon beträgt also 5,758,669. Das ist weniger als die Majorität von
1852, aber die Differenz wird dadurch ausgeglichen, daß die Wahl diesmal
viel freier war; dagegen muß man in Betracht ziehen, daß 1.391,599 Be¬
rechtigte sich der Stimmabgabe enthalten haben, und da gerade die De¬
mokratie stark auf jene Enthaltung Hingearbeit hat, so ist nach mäßiger
Berechnung anzunehmen, daß ^/z der Nichtstimmenden feindlich für die Regie¬
rung gesonnen ist, wonach die Gegner des Kaiserreichs auf ^/s der Gesammt-
berechligten kommen würden. Das ist eine nicht gering zu schätzende That¬
sache, um so mehr als jene Gegner eine active aggressive Macht bilden und
die Majorität aller großen Städte ausmachen, während die conservative
Mehrheit der Landesbevölkerung eine passive ist. welche zwar jeder Revolution
widerstrebt, aber schwerlich aufstehn würde, um bei einem Regierungswechsel
den Thron Napoleons zu vertheidigen.

Dazu kommt die Bedeutung des Votums der Armee; von 300,000
Soldaten haben 60,000 gegen den Kaiser gestimmt, eine Thatsache, die
Freunde wie Feinde gleichmäßig überrascht hat. Wie tief der Kaiser hiervon
erschüttert war, geht aus seinem hastigen Briefe an den Kriegsminister (den er
in der Uebereilung "mon cdsr statt "mon oder NarseKal" anredet)

genugsam hervor. Die Radicalen aber triumphirten laut, das Werkzeug des
Despotismus drohte in seiner Hand zu brechen. Unserer Ansicht nach wäre
es nun allerdings ein Irrthum zu glauben, daß ein großer Theil der ge¬
meinen Soldaten dem Kaiserreich feindlich sei; es mag unter ihnen Mi߬
vergnügen über die bisherige Nichterfüllung des Versprechens kürzerer Dienst¬
zeit herrschen, aber die Mehrzahl des Heeres besteht aus Bauernsöhnen, welche
vor allem Ruhe wollen und deshalb für den Kaiser gestimmt haben werden;
ein Votum wie das der Garnison von Angers wird daher als eine Aus¬
nahme zu betrachten sein. Aber wenn diese Auffassung richtig ist, so folgt
daraus, daß der größte Theil der feindlichen Stimmen der Armee von den
Unteroffizieren und Offizieren abgegeben sein muß, welche selbständige politi¬
sche Ansichten haben, sich nicht leicht von ihren Vorgesetzten bestimmen lassen
und namentlich über die Vorrechte der kaiserlichen Garde mißvergnügt sind.
Ein englisches Wochenblatt, der spectator, erzählt, kurz vor dem Plebiscit
sei eine Anzahl einflußreicher höherer Offiziere zusammengekommen, um ihre
Haltung zu besprechen und ihre Ansichten über die Dispositionen ihrer Unter-


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schüttelnder Kämpfe sein wird, auf welche sich die verschiedenen Parteien
schon jetzt vorbereiten werden. Unter diesen Parteien wird die republikanische
die stärkste und gefährlichste sein, man darf annehmen, daß fast die Gesammt-
zahl derer, die beim Plebiscit mit nein gestimmt haben, ihr angehört.

Von 10^ Millionen Stimmberechtigten haben 8,858.401 ihre Stimme
abgegeben, 7.308,535 bejahend, 1,549,866 verneinend, die reine Majorität für
Napoleon beträgt also 5,758,669. Das ist weniger als die Majorität von
1852, aber die Differenz wird dadurch ausgeglichen, daß die Wahl diesmal
viel freier war; dagegen muß man in Betracht ziehen, daß 1.391,599 Be¬
rechtigte sich der Stimmabgabe enthalten haben, und da gerade die De¬
mokratie stark auf jene Enthaltung Hingearbeit hat, so ist nach mäßiger
Berechnung anzunehmen, daß ^/z der Nichtstimmenden feindlich für die Regie¬
rung gesonnen ist, wonach die Gegner des Kaiserreichs auf ^/s der Gesammt-
berechligten kommen würden. Das ist eine nicht gering zu schätzende That¬
sache, um so mehr als jene Gegner eine active aggressive Macht bilden und
die Majorität aller großen Städte ausmachen, während die conservative
Mehrheit der Landesbevölkerung eine passive ist. welche zwar jeder Revolution
widerstrebt, aber schwerlich aufstehn würde, um bei einem Regierungswechsel
den Thron Napoleons zu vertheidigen.

Dazu kommt die Bedeutung des Votums der Armee; von 300,000
Soldaten haben 60,000 gegen den Kaiser gestimmt, eine Thatsache, die
Freunde wie Feinde gleichmäßig überrascht hat. Wie tief der Kaiser hiervon
erschüttert war, geht aus seinem hastigen Briefe an den Kriegsminister (den er
in der Uebereilung „mon cdsr statt „mon oder NarseKal" anredet)

genugsam hervor. Die Radicalen aber triumphirten laut, das Werkzeug des
Despotismus drohte in seiner Hand zu brechen. Unserer Ansicht nach wäre
es nun allerdings ein Irrthum zu glauben, daß ein großer Theil der ge¬
meinen Soldaten dem Kaiserreich feindlich sei; es mag unter ihnen Mi߬
vergnügen über die bisherige Nichterfüllung des Versprechens kürzerer Dienst¬
zeit herrschen, aber die Mehrzahl des Heeres besteht aus Bauernsöhnen, welche
vor allem Ruhe wollen und deshalb für den Kaiser gestimmt haben werden;
ein Votum wie das der Garnison von Angers wird daher als eine Aus¬
nahme zu betrachten sein. Aber wenn diese Auffassung richtig ist, so folgt
daraus, daß der größte Theil der feindlichen Stimmen der Armee von den
Unteroffizieren und Offizieren abgegeben sein muß, welche selbständige politi¬
sche Ansichten haben, sich nicht leicht von ihren Vorgesetzten bestimmen lassen
und namentlich über die Vorrechte der kaiserlichen Garde mißvergnügt sind.
Ein englisches Wochenblatt, der spectator, erzählt, kurz vor dem Plebiscit
sei eine Anzahl einflußreicher höherer Offiziere zusammengekommen, um ihre
Haltung zu besprechen und ihre Ansichten über die Dispositionen ihrer Unter-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/481>, abgerufen am 27.07.2024.