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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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schreitet eine Frau als Gesetzgeber, als Richter, als Priester die allen Völkern
heilige Schranke der Natur, warum schiene die Poesie etwas anderes als ein
Amt und Geschäft der Männer? Die ganze Geschichte lehrt es uns so.
Durch öffentliches Vortreten und Lautwerden versehrt das Weib seine an-
geborne Sitte und Würde. Wahre Dichtkunst läßt sich nicht abfinden. sie
fordert nicht das Geringe, vielmehr das Hohe und Reine, sie fordert, daß
der Dichter frei aus ungehemmter Brust singe. Wie kann eine Frau das
Ereigniß einer Liebe, eines Kusses vor aller Welt erzählen? Frauen ist die
Gabe eigen, mit unglaublicher Gewandtheit die Verhältnisse eines Hauses,
einer Gesellschaft zu erschauen, die Gabe, mit zartester Feder die Beobachtungen
innig vertrauten Personen mitzutheilen; fast jede Literatur besitzt einige sol¬
cher Sammlungen voll unnachahmlicher Natürlichkeit, die nach dem Tode ihrer
Verfasserinnen zuweilen bekannt gemacht worden sind. Alles Glückliche, was
Frauen schreiben, sollte wie Briefe behandelt und nur unter denselben Be¬
dingungen, mit denselben Vorsichten öffentlich werden; selbst gedruckte Briefe
der Männer würden ihres Reizes entbehren, wären sie mit dem Gedanken
an jemalige Herausgabe aufgesetzt worden. Wir haben nicht überschlagen,
wie viel deutsche Schriftstellerinnen das vorige Jahrhundert hervorgebracht
hat, von 1700 bis 1770 mögen ihrer zehnmal weniger sein, als von da
bis 1800, in diesen dreißig Jahren wieder kaum die Hälfte soviel, als von
1800 bis 1820 auftraten; eine niederschlagende Progression. So hat die
Sucht zu reimen, zu declamiren eine die andere genährt. Hrn. v. Schindel's
Sammlung wird ungefähr dreihundert Dichterinnen aufstellen (Emilie Gleim
darunter ist, seiner Nachweisung zufolge, ein Mann). Wenn sich nun in dem
Haufen von Büchern und Gedichten, aus diesen weiblichen Händen hervor¬
gegangen, kein einziges wirklich originales, kein mit dem Genius lebendiger
Poesie gestempeltes vorfindet, wenn, gesetzt daß alle ungedruckt geblieben
wären, unsere Literatur das nämliche Ansehen, welches sie hat. haben, der
Gang unserer Dichtkunst um kein Haarbreit verrückt worden sein würde, was
soll man daraus schließen? Dem Geiste einer Frau von Stael, die in der
französischen Literatur mit Macht einschreitet, ist keine deutsche Autorin bei
weitem gewachsen, das sei unserem Volke nicht Tadel, sondern Ruhm. Un¬
sere Schriftsteller haben sich nicht so viel sagen zu lassen, als Frau v. Stael
den Franzosen vorhält. Die Geschichte der Poesie des zwölften und drei¬
zehnten Jahrhunderts, welche von unseren heutigen Gelehrten so verdienstlich
angebaut wird, -- zeigt sie uns doch auch, zwar französische, provencalische
Damen, Nachahmerinnen der Troubadours, nur keine einzige deutsche Frau,
die sich in die Reihe der deutschen Sänger jener Zeit gewagt hätte. Einem
Volke vor andern ist das Gefühl fräulicher Sitte zu Theil geworden; müssen


Grenzboten II. 1870. 59

schreitet eine Frau als Gesetzgeber, als Richter, als Priester die allen Völkern
heilige Schranke der Natur, warum schiene die Poesie etwas anderes als ein
Amt und Geschäft der Männer? Die ganze Geschichte lehrt es uns so.
Durch öffentliches Vortreten und Lautwerden versehrt das Weib seine an-
geborne Sitte und Würde. Wahre Dichtkunst läßt sich nicht abfinden. sie
fordert nicht das Geringe, vielmehr das Hohe und Reine, sie fordert, daß
der Dichter frei aus ungehemmter Brust singe. Wie kann eine Frau das
Ereigniß einer Liebe, eines Kusses vor aller Welt erzählen? Frauen ist die
Gabe eigen, mit unglaublicher Gewandtheit die Verhältnisse eines Hauses,
einer Gesellschaft zu erschauen, die Gabe, mit zartester Feder die Beobachtungen
innig vertrauten Personen mitzutheilen; fast jede Literatur besitzt einige sol¬
cher Sammlungen voll unnachahmlicher Natürlichkeit, die nach dem Tode ihrer
Verfasserinnen zuweilen bekannt gemacht worden sind. Alles Glückliche, was
Frauen schreiben, sollte wie Briefe behandelt und nur unter denselben Be¬
dingungen, mit denselben Vorsichten öffentlich werden; selbst gedruckte Briefe
der Männer würden ihres Reizes entbehren, wären sie mit dem Gedanken
an jemalige Herausgabe aufgesetzt worden. Wir haben nicht überschlagen,
wie viel deutsche Schriftstellerinnen das vorige Jahrhundert hervorgebracht
hat, von 1700 bis 1770 mögen ihrer zehnmal weniger sein, als von da
bis 1800, in diesen dreißig Jahren wieder kaum die Hälfte soviel, als von
1800 bis 1820 auftraten; eine niederschlagende Progression. So hat die
Sucht zu reimen, zu declamiren eine die andere genährt. Hrn. v. Schindel's
Sammlung wird ungefähr dreihundert Dichterinnen aufstellen (Emilie Gleim
darunter ist, seiner Nachweisung zufolge, ein Mann). Wenn sich nun in dem
Haufen von Büchern und Gedichten, aus diesen weiblichen Händen hervor¬
gegangen, kein einziges wirklich originales, kein mit dem Genius lebendiger
Poesie gestempeltes vorfindet, wenn, gesetzt daß alle ungedruckt geblieben
wären, unsere Literatur das nämliche Ansehen, welches sie hat. haben, der
Gang unserer Dichtkunst um kein Haarbreit verrückt worden sein würde, was
soll man daraus schließen? Dem Geiste einer Frau von Stael, die in der
französischen Literatur mit Macht einschreitet, ist keine deutsche Autorin bei
weitem gewachsen, das sei unserem Volke nicht Tadel, sondern Ruhm. Un¬
sere Schriftsteller haben sich nicht so viel sagen zu lassen, als Frau v. Stael
den Franzosen vorhält. Die Geschichte der Poesie des zwölften und drei¬
zehnten Jahrhunderts, welche von unseren heutigen Gelehrten so verdienstlich
angebaut wird, — zeigt sie uns doch auch, zwar französische, provencalische
Damen, Nachahmerinnen der Troubadours, nur keine einzige deutsche Frau,
die sich in die Reihe der deutschen Sänger jener Zeit gewagt hätte. Einem
Volke vor andern ist das Gefühl fräulicher Sitte zu Theil geworden; müssen


Grenzboten II. 1870. 59
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/471>, abgerufen am 01.09.2024.