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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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Hinter den einzelnen Soldatenliedern möchten wir gern das Antlitz
ihrer Verfasser erkennen. Die Mehrzahl der Lieder ist offenbar von Sol¬
daten im Felde oder kurz darauf verfertigt. In den gewordenen Regimen¬
tern des fürstlichen Staates war unter dem seltsamen Material ein beson¬
ders zweideutiges, die verlorenen Studenten. Viele Söhne aus dem höhe¬
ren Bürgerstande oder vom Adel fielen nach wüstem Umhertretben auf Uni¬
versitäten den Werbern in die Hände. Sie trugen in die Heere viel von
dem abenteuerlichen Sinn und den geistigen Ansprüchen der fahrenden Schüler.
Als Soldaten unter dem Stock des Corporals von der bürgerlichen Gesell¬
schaft geschieden, behaupteten sie im Verkehr mit ihren rohen Genossen und
mit entwürdigten Weibern doch etwas von der Ueberlegenheit, welche ihnen
ihr früheres Leben in einer anderen Culturschicht gegeben hatte; manches
Lied, in welchem sich die Ausdrucksweise der Gebildeten wunderlich mit dem
Volkstone mischt, mag von solchen Gesellen herrühren. Aber nicht alle
Lieder sind nothwendig von Soldaten gemacht, auch der Bänkelsänger, der
kleine Bürger, der Schulmeister dürfen ihren Antheil beanspruchen. Bei
einem und dem anderen wäre vielleicht noch möglich, den Verfasser nach¬
zuweisen. -- Der Schreiber dieser Zeilen hatte z. B. Gelegenheit, dem Munde
einer alten Tagelöhnerfrau in einem thüringischen Dorfe ein Lied auf die
Schlacht bei Langensalza nachzuschreiben, das sie selbst in den Tagen der
Aufregung gedichtet hatte und mit Stolz Jedem im Dorf vorsang, der es
hören wollte, ein echtes Volkslied, in dem, was ihm eigenthümlich und was
aus vorhandener Liederhabe entlehnt ist.

Solche Lieder des Volkes legen sich natürlich gern an vorhandene Me¬
lodien, ja auch an den Wortlaut und Sinn älterer Lieder. Der erste
Sänger entnimmt sorglos aus dem Vorhandenen, was ihm dient, spätere
ändern und setzen zu, wo es ihnen nöthig erscheint, bewahren aber im All¬
gemeinen den überlieferten Text mit wörtlicher Treue. So lebt das Lied
vielleicht lange und geht von einer Generation auf die andere über; die
Mehrzahl freilich verklingt schnell, ohne daß sich ein Schriftgelehrter darum
kümmert. Der Zufall nur bringt sie in eines der kleinen Flugblätter, welche
als "Neue Lieder, gedruckt in diesem Jahr" auf Jahrmärkten verkauft werden,
oder ein Soldat schreibt sie für sich auf, in treuer Erinnerung an den Genuß,
den sie ihm bereitet, und ein wandernder Handswerksgesell copirt sie in sein
Büchlein, so kommen sie vielleicht nach vielen Jahren einmal in den Gesichts¬
kreis eines Sammlers.

Es ist kein Zweifel, daß die moderne Schule und die Volksliteratur all-
mälig auch den alten Stil dieser Lieder beseitigen werden. Ein großer Sieg
ist aber für unsere Kunstpoesie noch zu gewinnen, ein Liederschatz, der zu¬
gleich gebildeter Empfindung wohlthut und im besten Sinne des Wortes


Hinter den einzelnen Soldatenliedern möchten wir gern das Antlitz
ihrer Verfasser erkennen. Die Mehrzahl der Lieder ist offenbar von Sol¬
daten im Felde oder kurz darauf verfertigt. In den gewordenen Regimen¬
tern des fürstlichen Staates war unter dem seltsamen Material ein beson¬
ders zweideutiges, die verlorenen Studenten. Viele Söhne aus dem höhe¬
ren Bürgerstande oder vom Adel fielen nach wüstem Umhertretben auf Uni¬
versitäten den Werbern in die Hände. Sie trugen in die Heere viel von
dem abenteuerlichen Sinn und den geistigen Ansprüchen der fahrenden Schüler.
Als Soldaten unter dem Stock des Corporals von der bürgerlichen Gesell¬
schaft geschieden, behaupteten sie im Verkehr mit ihren rohen Genossen und
mit entwürdigten Weibern doch etwas von der Ueberlegenheit, welche ihnen
ihr früheres Leben in einer anderen Culturschicht gegeben hatte; manches
Lied, in welchem sich die Ausdrucksweise der Gebildeten wunderlich mit dem
Volkstone mischt, mag von solchen Gesellen herrühren. Aber nicht alle
Lieder sind nothwendig von Soldaten gemacht, auch der Bänkelsänger, der
kleine Bürger, der Schulmeister dürfen ihren Antheil beanspruchen. Bei
einem und dem anderen wäre vielleicht noch möglich, den Verfasser nach¬
zuweisen. — Der Schreiber dieser Zeilen hatte z. B. Gelegenheit, dem Munde
einer alten Tagelöhnerfrau in einem thüringischen Dorfe ein Lied auf die
Schlacht bei Langensalza nachzuschreiben, das sie selbst in den Tagen der
Aufregung gedichtet hatte und mit Stolz Jedem im Dorf vorsang, der es
hören wollte, ein echtes Volkslied, in dem, was ihm eigenthümlich und was
aus vorhandener Liederhabe entlehnt ist.

Solche Lieder des Volkes legen sich natürlich gern an vorhandene Me¬
lodien, ja auch an den Wortlaut und Sinn älterer Lieder. Der erste
Sänger entnimmt sorglos aus dem Vorhandenen, was ihm dient, spätere
ändern und setzen zu, wo es ihnen nöthig erscheint, bewahren aber im All¬
gemeinen den überlieferten Text mit wörtlicher Treue. So lebt das Lied
vielleicht lange und geht von einer Generation auf die andere über; die
Mehrzahl freilich verklingt schnell, ohne daß sich ein Schriftgelehrter darum
kümmert. Der Zufall nur bringt sie in eines der kleinen Flugblätter, welche
als „Neue Lieder, gedruckt in diesem Jahr" auf Jahrmärkten verkauft werden,
oder ein Soldat schreibt sie für sich auf, in treuer Erinnerung an den Genuß,
den sie ihm bereitet, und ein wandernder Handswerksgesell copirt sie in sein
Büchlein, so kommen sie vielleicht nach vielen Jahren einmal in den Gesichts¬
kreis eines Sammlers.

Es ist kein Zweifel, daß die moderne Schule und die Volksliteratur all-
mälig auch den alten Stil dieser Lieder beseitigen werden. Ein großer Sieg
ist aber für unsere Kunstpoesie noch zu gewinnen, ein Liederschatz, der zu¬
gleich gebildeter Empfindung wohlthut und im besten Sinne des Wortes


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[0044] Hinter den einzelnen Soldatenliedern möchten wir gern das Antlitz ihrer Verfasser erkennen. Die Mehrzahl der Lieder ist offenbar von Sol¬ daten im Felde oder kurz darauf verfertigt. In den gewordenen Regimen¬ tern des fürstlichen Staates war unter dem seltsamen Material ein beson¬ ders zweideutiges, die verlorenen Studenten. Viele Söhne aus dem höhe¬ ren Bürgerstande oder vom Adel fielen nach wüstem Umhertretben auf Uni¬ versitäten den Werbern in die Hände. Sie trugen in die Heere viel von dem abenteuerlichen Sinn und den geistigen Ansprüchen der fahrenden Schüler. Als Soldaten unter dem Stock des Corporals von der bürgerlichen Gesell¬ schaft geschieden, behaupteten sie im Verkehr mit ihren rohen Genossen und mit entwürdigten Weibern doch etwas von der Ueberlegenheit, welche ihnen ihr früheres Leben in einer anderen Culturschicht gegeben hatte; manches Lied, in welchem sich die Ausdrucksweise der Gebildeten wunderlich mit dem Volkstone mischt, mag von solchen Gesellen herrühren. Aber nicht alle Lieder sind nothwendig von Soldaten gemacht, auch der Bänkelsänger, der kleine Bürger, der Schulmeister dürfen ihren Antheil beanspruchen. Bei einem und dem anderen wäre vielleicht noch möglich, den Verfasser nach¬ zuweisen. — Der Schreiber dieser Zeilen hatte z. B. Gelegenheit, dem Munde einer alten Tagelöhnerfrau in einem thüringischen Dorfe ein Lied auf die Schlacht bei Langensalza nachzuschreiben, das sie selbst in den Tagen der Aufregung gedichtet hatte und mit Stolz Jedem im Dorf vorsang, der es hören wollte, ein echtes Volkslied, in dem, was ihm eigenthümlich und was aus vorhandener Liederhabe entlehnt ist. Solche Lieder des Volkes legen sich natürlich gern an vorhandene Me¬ lodien, ja auch an den Wortlaut und Sinn älterer Lieder. Der erste Sänger entnimmt sorglos aus dem Vorhandenen, was ihm dient, spätere ändern und setzen zu, wo es ihnen nöthig erscheint, bewahren aber im All¬ gemeinen den überlieferten Text mit wörtlicher Treue. So lebt das Lied vielleicht lange und geht von einer Generation auf die andere über; die Mehrzahl freilich verklingt schnell, ohne daß sich ein Schriftgelehrter darum kümmert. Der Zufall nur bringt sie in eines der kleinen Flugblätter, welche als „Neue Lieder, gedruckt in diesem Jahr" auf Jahrmärkten verkauft werden, oder ein Soldat schreibt sie für sich auf, in treuer Erinnerung an den Genuß, den sie ihm bereitet, und ein wandernder Handswerksgesell copirt sie in sein Büchlein, so kommen sie vielleicht nach vielen Jahren einmal in den Gesichts¬ kreis eines Sammlers. Es ist kein Zweifel, daß die moderne Schule und die Volksliteratur all- mälig auch den alten Stil dieser Lieder beseitigen werden. Ein großer Sieg ist aber für unsere Kunstpoesie noch zu gewinnen, ein Liederschatz, der zu¬ gleich gebildeter Empfindung wohlthut und im besten Sinne des Wortes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/44>, abgerufen am 27.07.2024.