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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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der freien, herrlichen Natur seinen grünen mit Almrausch, Edelweiß, Spetl,
Raute, Gembsrösle oder mit Gemsbart, Schildhahn- oder Spielhahn. ze.
Federn geschmückten Kegelhut mit einem von Berg zu Berg wiederhallenden
"Tuhuhu hui" baumhoch in die Luft."

"Sonntags sitzt er mit seinen "Gespanen" (Kameraden) und "Zech¬
brüdern" freudestrahlend im Wirthshaus bei seiner "halben" Bier oder "Most"
oder bei seinem Seidel Steirischen ("Schilches") oder "Wälischen" Mein)
-- "Plauscht" "spaßlt" "jutzt" laut, haut vor lauter Lust mit der eisernen
Faust auf den Tisch, daß Fenster und Wände zittern und Gläser und Teller
in die Luft springen. "Heine ists sakrisch lnsel -- seine muß noch Einer hin
Werden" ruft der von Kraft und Kampfeslust strotzende und von Bier oder
Wein erhitzte Bauerbursche auf dem "Kirchtig" (Kirmes) aus." Und ge-
wohnlich wird nicht blos "Einer" sondern zwei oder drei wirklich "hin"; auch
nicht blos aus den "Kirchtigen". sondern bei jeder simpeln Sonntagskneiperet
namentlich wenn das fast regelmäßige Tanzvergnügen damit verbunden ist.

Für eine zwar süddeutsch geborene, aber norddeutsch gezogene Phi-
listerseele wie die unserige hat, wir gestehen es, diese auf das bloße "Hin
machen" d. h. Todtschläger an und für sich gerichtete Rauflust jener
Natursöhne einen betrübenden Beischmack von Cannibalismus. Auch ver¬
gessen wir nicht, daß es genau dieselben "Burschen" sind, die sich dem
Se. Lienhard und allen möglichen anderen Heiligen und Heiliginnen devotest
"verloben", aber wenn das Ziel des "Verlöbnisses" nicht erreicht wird, die¬
selben genau so behandeln, wie die Neger ihre widerspenstigen Fetische. Die
gleichfalls höchst philiströse Criminalstatistik betrachtet diese poetischen Ge¬
stalten, wie bekannt, auch mit sehr bedenklichen Augen. Ihr und allen Denen,
die einen gewissen Werth auf sie legen, ist es doch eine seltsame Erscheinung,
daß nirgends auf deutschem Boden so viel schwere Verbrechen an Leben und
Eigenthum vorkommen als hier, und wahrscheinlich auch in den verrufensten
Gegenden Unteritaliens und Siciliens nicht viel mehr. Auch weist sie mit
ihren unerbittlichen Zahlen nach, daß daneben hier noch mindestens ebenso
viel Spielraum wie anderswo, wo eine viel geringere "Lebensfreudigkeit"
herrscht, für die Verbrechen des Meineides, des Betruges, der heimlichen Be¬
schädigung des Lebens und Eigenthums anderer bleibt. Aber alles das
Wissen unsere norddeutschen Schwärmer nicht oder wenn sie es ja einmal
lesen, sind sie gutmüthig und naiv genug, das auch noch für eine roman¬
tische Staffage ihrer "prachtvollen Alpler" zu halten. Unsere Touristen¬
literatur, bekanntlich massenhaft gerade auf einer so befahrenen Straße sich
bewegend, hütet sich wohl von dieser beliebten 'Heerstraße der Sympathien
abzustreifen und sich in die unschönen Regionen der gemeinen Wirklichkeit zu
verlieren. Alle die zum Theil, was man so nennt, recht gut geschriebenen


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der freien, herrlichen Natur seinen grünen mit Almrausch, Edelweiß, Spetl,
Raute, Gembsrösle oder mit Gemsbart, Schildhahn- oder Spielhahn. ze.
Federn geschmückten Kegelhut mit einem von Berg zu Berg wiederhallenden
„Tuhuhu hui" baumhoch in die Luft."

„Sonntags sitzt er mit seinen „Gespanen" (Kameraden) und „Zech¬
brüdern" freudestrahlend im Wirthshaus bei seiner „halben" Bier oder „Most"
oder bei seinem Seidel Steirischen („Schilches") oder „Wälischen" Mein)
— „Plauscht" „spaßlt" „jutzt" laut, haut vor lauter Lust mit der eisernen
Faust auf den Tisch, daß Fenster und Wände zittern und Gläser und Teller
in die Luft springen. „Heine ists sakrisch lnsel — seine muß noch Einer hin
Werden" ruft der von Kraft und Kampfeslust strotzende und von Bier oder
Wein erhitzte Bauerbursche auf dem „Kirchtig" (Kirmes) aus." Und ge-
wohnlich wird nicht blos „Einer" sondern zwei oder drei wirklich „hin"; auch
nicht blos aus den „Kirchtigen". sondern bei jeder simpeln Sonntagskneiperet
namentlich wenn das fast regelmäßige Tanzvergnügen damit verbunden ist.

Für eine zwar süddeutsch geborene, aber norddeutsch gezogene Phi-
listerseele wie die unserige hat, wir gestehen es, diese auf das bloße „Hin
machen" d. h. Todtschläger an und für sich gerichtete Rauflust jener
Natursöhne einen betrübenden Beischmack von Cannibalismus. Auch ver¬
gessen wir nicht, daß es genau dieselben „Burschen" sind, die sich dem
Se. Lienhard und allen möglichen anderen Heiligen und Heiliginnen devotest
»verloben", aber wenn das Ziel des „Verlöbnisses" nicht erreicht wird, die¬
selben genau so behandeln, wie die Neger ihre widerspenstigen Fetische. Die
gleichfalls höchst philiströse Criminalstatistik betrachtet diese poetischen Ge¬
stalten, wie bekannt, auch mit sehr bedenklichen Augen. Ihr und allen Denen,
die einen gewissen Werth auf sie legen, ist es doch eine seltsame Erscheinung,
daß nirgends auf deutschem Boden so viel schwere Verbrechen an Leben und
Eigenthum vorkommen als hier, und wahrscheinlich auch in den verrufensten
Gegenden Unteritaliens und Siciliens nicht viel mehr. Auch weist sie mit
ihren unerbittlichen Zahlen nach, daß daneben hier noch mindestens ebenso
viel Spielraum wie anderswo, wo eine viel geringere „Lebensfreudigkeit"
herrscht, für die Verbrechen des Meineides, des Betruges, der heimlichen Be¬
schädigung des Lebens und Eigenthums anderer bleibt. Aber alles das
Wissen unsere norddeutschen Schwärmer nicht oder wenn sie es ja einmal
lesen, sind sie gutmüthig und naiv genug, das auch noch für eine roman¬
tische Staffage ihrer „prachtvollen Alpler" zu halten. Unsere Touristen¬
literatur, bekanntlich massenhaft gerade auf einer so befahrenen Straße sich
bewegend, hütet sich wohl von dieser beliebten 'Heerstraße der Sympathien
abzustreifen und sich in die unschönen Regionen der gemeinen Wirklichkeit zu
verlieren. Alle die zum Theil, was man so nennt, recht gut geschriebenen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/433>, abgerufen am 28.07.2024.