Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Augen fremde Postillone, Gensd'armen :c. ^täglich zu sehen bekommt, geht
ihm die Anschauung auf, daß es außer den roth-schwarz angestrichenen Seht.ig-
bäumen auch noch blau-weiße gibt. Er besitzt oder besaß also weder Vor¬
urtheile noch überhaupt ein Urtheil über den Norden, In den letzten Jahren
ist das freilich anders worden. Die Jacobiner- und Kapuzinermütze im har¬
monischen Bunde, die Ultramontanen und sogenannten demokratischen
Agitatoren haben dafür gesorgt, daß der Name "Breiße" in jeder Hütte
und jeder Kneipe populär geworden ist, aber trotz aller ebenso lächerlichen
wie scheußlichen Hetzereien, die man sich von jener Seite mit dem völlig
wahren Bvlksgeiste ungestraft erlaubt, ist es doch nicht möglich geworden,
ein süddeutsches Gesammtbewußtsein zu erzeugen, und wird es auch nie¬
mals möglich werden. Jedes Städchen und Völkchen bleibt in seiner alt-
hergebrachten oder neu eingepaukten Vereinzelung und das neue Ingredienz
des deutschen Bewußtseins, die fanatische Preußenfresserei, dient nur dazu,
die Jsolirung noch größer, die gegenseitige Abneigung, die wieder unter
allen diesen Haufen besteht, noch giftiger zu machen. Denn sobald jetzt der
Nachbar irgend etwas beginnt, was dem andern mißfällt, so erhebt sich gleich
das Geschrei von "Vervreußung",. woran man vor etwa 10--12 Jahren
noch nicht dachte.

Selbstverständlich ist einer so völlig naiven Masse gar nicht auf literari¬
schem Wege beizukommen. Sie liest zwar jetzt oder hört wenigstens ein oder
zweimal wöchentlich die "Zeitung" vorlesen, aber weiter reicht weder ihr Lese¬
bedürfniß noch ihr Glaube an das gedruckte Wort. "Er lügt wie gedruckt"
ist nicht blos ein gedankenlos hingeworfenes Sprichwort, sondern dieselben
Leute, welche auf ihre blos aus Lügen zusammengeflickte "Zeitung" schwören,
betrachten alle andern Erzeugnisse der Presse mit einem Gemische von iro¬
nischer Verachtung und furchtsamer Scheu -- wegen der Gefahren für das
Seelenheil bei den rechtgläubig gestempelten Köpfen, für die Gesinnungs¬
tüchtigkeit für den "Liberalischen" oder wie sie sich selbst jetzt lieber nennen,
"Republikanern". Also wird auch Hrn. Schatzmayers Buch niemals in das
süddeutsche eigentliche Volk dringen, sondern blos unter dem gebildeten
Publieum bleiben, wo es, wie schon bemerkt, auch in der That ein sehr
fruchtbares Feld finden könnte. Denn obgleich es, wie hier bemerkt wird,
nicht blos Unkenntniß des Nordens ist, dem die albernen Vorurtheile
des Südens ihre Entstehung verdanken, sondern ganz andere, weniger harm¬
lose Gründe, so gibt es doch immer unter der Masse derer, die nichts lernen
können, weil sie nichts lernen wollen, einzelne der Belehrung zugängliche
ehrliche Seelen, und es wäre schon viel gethan, würden diese nur aus ihrer
lächerlichen Verblendung, oder wie man es sonst nennen soll, erlöst. Wer
nicht selbst ein geborener Süddeutscher ist und zugleich Süddeutschland durch


Augen fremde Postillone, Gensd'armen :c. ^täglich zu sehen bekommt, geht
ihm die Anschauung auf, daß es außer den roth-schwarz angestrichenen Seht.ig-
bäumen auch noch blau-weiße gibt. Er besitzt oder besaß also weder Vor¬
urtheile noch überhaupt ein Urtheil über den Norden, In den letzten Jahren
ist das freilich anders worden. Die Jacobiner- und Kapuzinermütze im har¬
monischen Bunde, die Ultramontanen und sogenannten demokratischen
Agitatoren haben dafür gesorgt, daß der Name „Breiße" in jeder Hütte
und jeder Kneipe populär geworden ist, aber trotz aller ebenso lächerlichen
wie scheußlichen Hetzereien, die man sich von jener Seite mit dem völlig
wahren Bvlksgeiste ungestraft erlaubt, ist es doch nicht möglich geworden,
ein süddeutsches Gesammtbewußtsein zu erzeugen, und wird es auch nie¬
mals möglich werden. Jedes Städchen und Völkchen bleibt in seiner alt-
hergebrachten oder neu eingepaukten Vereinzelung und das neue Ingredienz
des deutschen Bewußtseins, die fanatische Preußenfresserei, dient nur dazu,
die Jsolirung noch größer, die gegenseitige Abneigung, die wieder unter
allen diesen Haufen besteht, noch giftiger zu machen. Denn sobald jetzt der
Nachbar irgend etwas beginnt, was dem andern mißfällt, so erhebt sich gleich
das Geschrei von „Vervreußung",. woran man vor etwa 10—12 Jahren
noch nicht dachte.

Selbstverständlich ist einer so völlig naiven Masse gar nicht auf literari¬
schem Wege beizukommen. Sie liest zwar jetzt oder hört wenigstens ein oder
zweimal wöchentlich die „Zeitung" vorlesen, aber weiter reicht weder ihr Lese¬
bedürfniß noch ihr Glaube an das gedruckte Wort. „Er lügt wie gedruckt"
ist nicht blos ein gedankenlos hingeworfenes Sprichwort, sondern dieselben
Leute, welche auf ihre blos aus Lügen zusammengeflickte „Zeitung" schwören,
betrachten alle andern Erzeugnisse der Presse mit einem Gemische von iro¬
nischer Verachtung und furchtsamer Scheu — wegen der Gefahren für das
Seelenheil bei den rechtgläubig gestempelten Köpfen, für die Gesinnungs¬
tüchtigkeit für den „Liberalischen" oder wie sie sich selbst jetzt lieber nennen,
»Republikanern". Also wird auch Hrn. Schatzmayers Buch niemals in das
süddeutsche eigentliche Volk dringen, sondern blos unter dem gebildeten
Publieum bleiben, wo es, wie schon bemerkt, auch in der That ein sehr
fruchtbares Feld finden könnte. Denn obgleich es, wie hier bemerkt wird,
nicht blos Unkenntniß des Nordens ist, dem die albernen Vorurtheile
des Südens ihre Entstehung verdanken, sondern ganz andere, weniger harm¬
lose Gründe, so gibt es doch immer unter der Masse derer, die nichts lernen
können, weil sie nichts lernen wollen, einzelne der Belehrung zugängliche
ehrliche Seelen, und es wäre schon viel gethan, würden diese nur aus ihrer
lächerlichen Verblendung, oder wie man es sonst nennen soll, erlöst. Wer
nicht selbst ein geborener Süddeutscher ist und zugleich Süddeutschland durch


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0429" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/124049"/>
          <p xml:id="ID_1292" prev="#ID_1291"> Augen fremde Postillone, Gensd'armen :c. ^täglich zu sehen bekommt, geht<lb/>
ihm die Anschauung auf, daß es außer den roth-schwarz angestrichenen Seht.ig-<lb/>
bäumen auch noch blau-weiße gibt.  Er besitzt oder besaß also weder Vor¬<lb/>
urtheile noch überhaupt ein Urtheil über den Norden, In den letzten Jahren<lb/>
ist das freilich anders worden.  Die Jacobiner- und Kapuzinermütze im har¬<lb/>
monischen Bunde,  die  Ultramontanen und sogenannten demokratischen<lb/>
Agitatoren haben dafür gesorgt, daß der Name &#x201E;Breiße" in jeder Hütte<lb/>
und jeder Kneipe populär geworden ist, aber trotz aller ebenso lächerlichen<lb/>
wie scheußlichen Hetzereien, die man sich von jener Seite mit dem völlig<lb/>
wahren Bvlksgeiste ungestraft erlaubt, ist es doch nicht möglich geworden,<lb/>
ein süddeutsches Gesammtbewußtsein zu erzeugen, und wird es auch nie¬<lb/>
mals möglich werden.  Jedes Städchen und Völkchen bleibt in seiner alt-<lb/>
hergebrachten oder neu eingepaukten Vereinzelung und das neue Ingredienz<lb/>
des deutschen Bewußtseins, die fanatische Preußenfresserei, dient nur dazu,<lb/>
die Jsolirung noch größer, die gegenseitige Abneigung, die wieder unter<lb/>
allen diesen Haufen besteht, noch giftiger zu machen.  Denn sobald jetzt der<lb/>
Nachbar irgend etwas beginnt, was dem andern mißfällt, so erhebt sich gleich<lb/>
das Geschrei von &#x201E;Vervreußung",. woran man vor etwa 10&#x2014;12 Jahren<lb/>
noch nicht dachte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1293" next="#ID_1294"> Selbstverständlich ist einer so völlig naiven Masse gar nicht auf literari¬<lb/>
schem Wege beizukommen.  Sie liest zwar jetzt oder hört wenigstens ein oder<lb/>
zweimal wöchentlich die &#x201E;Zeitung" vorlesen, aber weiter reicht weder ihr Lese¬<lb/>
bedürfniß noch ihr Glaube an das gedruckte Wort.  &#x201E;Er lügt wie gedruckt"<lb/>
ist nicht blos ein gedankenlos hingeworfenes Sprichwort, sondern dieselben<lb/>
Leute, welche auf ihre blos aus Lügen zusammengeflickte &#x201E;Zeitung" schwören,<lb/>
betrachten alle andern Erzeugnisse der Presse mit einem Gemische von iro¬<lb/>
nischer Verachtung und furchtsamer Scheu &#x2014; wegen der Gefahren für das<lb/>
Seelenheil bei den rechtgläubig gestempelten Köpfen, für die Gesinnungs¬<lb/>
tüchtigkeit für den &#x201E;Liberalischen" oder wie sie sich selbst jetzt lieber nennen,<lb/>
»Republikanern".  Also wird auch Hrn. Schatzmayers Buch niemals in das<lb/>
süddeutsche eigentliche Volk dringen, sondern blos unter dem gebildeten<lb/>
Publieum bleiben, wo es, wie schon bemerkt, auch in der That ein sehr<lb/>
fruchtbares Feld finden könnte.  Denn obgleich es, wie hier bemerkt wird,<lb/>
nicht blos Unkenntniß des Nordens ist,  dem die albernen Vorurtheile<lb/>
des Südens ihre Entstehung verdanken, sondern ganz andere, weniger harm¬<lb/>
lose Gründe, so gibt es doch immer unter der Masse derer, die nichts lernen<lb/>
können, weil sie nichts lernen wollen, einzelne der Belehrung zugängliche<lb/>
ehrliche Seelen, und es wäre schon viel gethan, würden diese nur aus ihrer<lb/>
lächerlichen Verblendung, oder wie man es sonst nennen soll, erlöst. Wer<lb/>
nicht selbst ein geborener Süddeutscher ist und zugleich Süddeutschland durch</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0429] Augen fremde Postillone, Gensd'armen :c. ^täglich zu sehen bekommt, geht ihm die Anschauung auf, daß es außer den roth-schwarz angestrichenen Seht.ig- bäumen auch noch blau-weiße gibt. Er besitzt oder besaß also weder Vor¬ urtheile noch überhaupt ein Urtheil über den Norden, In den letzten Jahren ist das freilich anders worden. Die Jacobiner- und Kapuzinermütze im har¬ monischen Bunde, die Ultramontanen und sogenannten demokratischen Agitatoren haben dafür gesorgt, daß der Name „Breiße" in jeder Hütte und jeder Kneipe populär geworden ist, aber trotz aller ebenso lächerlichen wie scheußlichen Hetzereien, die man sich von jener Seite mit dem völlig wahren Bvlksgeiste ungestraft erlaubt, ist es doch nicht möglich geworden, ein süddeutsches Gesammtbewußtsein zu erzeugen, und wird es auch nie¬ mals möglich werden. Jedes Städchen und Völkchen bleibt in seiner alt- hergebrachten oder neu eingepaukten Vereinzelung und das neue Ingredienz des deutschen Bewußtseins, die fanatische Preußenfresserei, dient nur dazu, die Jsolirung noch größer, die gegenseitige Abneigung, die wieder unter allen diesen Haufen besteht, noch giftiger zu machen. Denn sobald jetzt der Nachbar irgend etwas beginnt, was dem andern mißfällt, so erhebt sich gleich das Geschrei von „Vervreußung",. woran man vor etwa 10—12 Jahren noch nicht dachte. Selbstverständlich ist einer so völlig naiven Masse gar nicht auf literari¬ schem Wege beizukommen. Sie liest zwar jetzt oder hört wenigstens ein oder zweimal wöchentlich die „Zeitung" vorlesen, aber weiter reicht weder ihr Lese¬ bedürfniß noch ihr Glaube an das gedruckte Wort. „Er lügt wie gedruckt" ist nicht blos ein gedankenlos hingeworfenes Sprichwort, sondern dieselben Leute, welche auf ihre blos aus Lügen zusammengeflickte „Zeitung" schwören, betrachten alle andern Erzeugnisse der Presse mit einem Gemische von iro¬ nischer Verachtung und furchtsamer Scheu — wegen der Gefahren für das Seelenheil bei den rechtgläubig gestempelten Köpfen, für die Gesinnungs¬ tüchtigkeit für den „Liberalischen" oder wie sie sich selbst jetzt lieber nennen, »Republikanern". Also wird auch Hrn. Schatzmayers Buch niemals in das süddeutsche eigentliche Volk dringen, sondern blos unter dem gebildeten Publieum bleiben, wo es, wie schon bemerkt, auch in der That ein sehr fruchtbares Feld finden könnte. Denn obgleich es, wie hier bemerkt wird, nicht blos Unkenntniß des Nordens ist, dem die albernen Vorurtheile des Südens ihre Entstehung verdanken, sondern ganz andere, weniger harm¬ lose Gründe, so gibt es doch immer unter der Masse derer, die nichts lernen können, weil sie nichts lernen wollen, einzelne der Belehrung zugängliche ehrliche Seelen, und es wäre schon viel gethan, würden diese nur aus ihrer lächerlichen Verblendung, oder wie man es sonst nennen soll, erlöst. Wer nicht selbst ein geborener Süddeutscher ist und zugleich Süddeutschland durch

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/429
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/429>, abgerufen am 18.12.2024.