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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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und zerrissenen Niederschriften, aus den Casernen, von verwehten Druckblättern,
das sind immer nur einzelne Beispiele aus dem Lagergesange vergangener
und lebender Geschlechter, aber sie versetzen uns auf die Schlachtfelder und
an die Lagerfeuer von zwei Jahrhunderten preußischer Geschichte, und sie
erzählen von Liebe und Haß in den harten Bataillonen des Dessauers, von
den kleinen Freuden und Leiden des Soldatenlebens unter dem großen König,
von der Begeisterung des Jahres 1813 und von der Soldatenehre der jetzt
bestehenden Regimenter des norddeutschen Bundes. Sieht man näher zu, so
erkennt man schnell, daß Ton und Sprache auch der Lieder, welche aus gleicher
Zeit stammen, sehr verschieden sind. Die einen geben in ältester Weise epischen
Bericht über den Verlauf einer Schlacht, wie sie sich im Gesichtskreis des
einzelnen Mannes darstellt, andere sind polemischer Natur, Spottlieder auf die
Feinde, aus Oestreicher, Franzosen, Napoleon; andere Loblieder der Feldherrn,
des Heeres, einer Action, eines Regiments. Viele sind nach alten Soldaten¬
weisen gemacht, andere sind für den Druck fliegender Blätter berechnet, oder
die stärkere Kraft des unbekannten Dichters fand ihnen eine eigene Melodie,
welche früher verklang als der Text des Liedes. Auch Sprache und Bildung
der Erfinder sind sehr verschieden, bei der Mehrzahl sieht man, wie die
Kunstpoesie der Zeit einzelne feine Redervendungen, ja auch die Dichtungsform
und den Rhythmus geliehen hat. Den Soldaten des großen Kurfürsten und
Friedrich II. z. B. war eine vornehme Redewendung den Krieg des "Martis
Spiel" zu nennen und ihnen erschien der Fall des alexandrinischen Verses
als besonders prächtig. Das Lied "Uebergabe von Stettin 1677" wurde
nach der Melodie gesungen "Amarillis sage mir, warum willst du dich nicht
geben". Es wurde gedichtet als Wechselgespräch zwischen dem Kurfürsten
und der jungfräulichen Festung Stettin, dies in Erinnerung an ein Magde-
durgisches Lied des 16. Jahrhunderts, wo die Wappenjungfrau Magdeburgs
ihr Kränzlein gegen das Heer des Kurfürsten Moritz von Sachsen länger
als ein Jahr vertheidigte. Aber die dialogisirende Form, in welcher die
Parteien einander streitend gegenüber gestellt werden, kehrt in der Sammlung
häufig wieder. Friedrich der Große und Maria Theresia singen ihre Verse
gegeneinander, ebenso Napoleon und König von Preußen nach der Melodie
"Guter Mond, du gehst so stille", und Napoleon und Blücher nach der Melodie
"Himmel, was soll das bedeuten", wobei Napoleon gegen Blücher mit
den Worten beginnt: "Jetzt, du Tausenschockschwerenöther", und Blücher, der
vortrefflich charakterisirt ist. das Lied mit den Worten schließt: "Jungens,
druff! Mit Gott soll's gehen, jetzt für König. Vaterland! Du. Napoleon
wirst sehen, da hält nicht dein Glücke Stand!"

Es ist vor diesem Soldatenliede des Jahres 1816 ein fröhlicher Ge-
danke, daß dieselbe Form des Kampfgespräches wohl die älteste uns überlieferte


und zerrissenen Niederschriften, aus den Casernen, von verwehten Druckblättern,
das sind immer nur einzelne Beispiele aus dem Lagergesange vergangener
und lebender Geschlechter, aber sie versetzen uns auf die Schlachtfelder und
an die Lagerfeuer von zwei Jahrhunderten preußischer Geschichte, und sie
erzählen von Liebe und Haß in den harten Bataillonen des Dessauers, von
den kleinen Freuden und Leiden des Soldatenlebens unter dem großen König,
von der Begeisterung des Jahres 1813 und von der Soldatenehre der jetzt
bestehenden Regimenter des norddeutschen Bundes. Sieht man näher zu, so
erkennt man schnell, daß Ton und Sprache auch der Lieder, welche aus gleicher
Zeit stammen, sehr verschieden sind. Die einen geben in ältester Weise epischen
Bericht über den Verlauf einer Schlacht, wie sie sich im Gesichtskreis des
einzelnen Mannes darstellt, andere sind polemischer Natur, Spottlieder auf die
Feinde, aus Oestreicher, Franzosen, Napoleon; andere Loblieder der Feldherrn,
des Heeres, einer Action, eines Regiments. Viele sind nach alten Soldaten¬
weisen gemacht, andere sind für den Druck fliegender Blätter berechnet, oder
die stärkere Kraft des unbekannten Dichters fand ihnen eine eigene Melodie,
welche früher verklang als der Text des Liedes. Auch Sprache und Bildung
der Erfinder sind sehr verschieden, bei der Mehrzahl sieht man, wie die
Kunstpoesie der Zeit einzelne feine Redervendungen, ja auch die Dichtungsform
und den Rhythmus geliehen hat. Den Soldaten des großen Kurfürsten und
Friedrich II. z. B. war eine vornehme Redewendung den Krieg des „Martis
Spiel" zu nennen und ihnen erschien der Fall des alexandrinischen Verses
als besonders prächtig. Das Lied „Uebergabe von Stettin 1677" wurde
nach der Melodie gesungen „Amarillis sage mir, warum willst du dich nicht
geben". Es wurde gedichtet als Wechselgespräch zwischen dem Kurfürsten
und der jungfräulichen Festung Stettin, dies in Erinnerung an ein Magde-
durgisches Lied des 16. Jahrhunderts, wo die Wappenjungfrau Magdeburgs
ihr Kränzlein gegen das Heer des Kurfürsten Moritz von Sachsen länger
als ein Jahr vertheidigte. Aber die dialogisirende Form, in welcher die
Parteien einander streitend gegenüber gestellt werden, kehrt in der Sammlung
häufig wieder. Friedrich der Große und Maria Theresia singen ihre Verse
gegeneinander, ebenso Napoleon und König von Preußen nach der Melodie
„Guter Mond, du gehst so stille", und Napoleon und Blücher nach der Melodie
„Himmel, was soll das bedeuten", wobei Napoleon gegen Blücher mit
den Worten beginnt: „Jetzt, du Tausenschockschwerenöther", und Blücher, der
vortrefflich charakterisirt ist. das Lied mit den Worten schließt: „Jungens,
druff! Mit Gott soll's gehen, jetzt für König. Vaterland! Du. Napoleon
wirst sehen, da hält nicht dein Glücke Stand!"

Es ist vor diesem Soldatenliede des Jahres 1816 ein fröhlicher Ge-
danke, daß dieselbe Form des Kampfgespräches wohl die älteste uns überlieferte


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[0042] und zerrissenen Niederschriften, aus den Casernen, von verwehten Druckblättern, das sind immer nur einzelne Beispiele aus dem Lagergesange vergangener und lebender Geschlechter, aber sie versetzen uns auf die Schlachtfelder und an die Lagerfeuer von zwei Jahrhunderten preußischer Geschichte, und sie erzählen von Liebe und Haß in den harten Bataillonen des Dessauers, von den kleinen Freuden und Leiden des Soldatenlebens unter dem großen König, von der Begeisterung des Jahres 1813 und von der Soldatenehre der jetzt bestehenden Regimenter des norddeutschen Bundes. Sieht man näher zu, so erkennt man schnell, daß Ton und Sprache auch der Lieder, welche aus gleicher Zeit stammen, sehr verschieden sind. Die einen geben in ältester Weise epischen Bericht über den Verlauf einer Schlacht, wie sie sich im Gesichtskreis des einzelnen Mannes darstellt, andere sind polemischer Natur, Spottlieder auf die Feinde, aus Oestreicher, Franzosen, Napoleon; andere Loblieder der Feldherrn, des Heeres, einer Action, eines Regiments. Viele sind nach alten Soldaten¬ weisen gemacht, andere sind für den Druck fliegender Blätter berechnet, oder die stärkere Kraft des unbekannten Dichters fand ihnen eine eigene Melodie, welche früher verklang als der Text des Liedes. Auch Sprache und Bildung der Erfinder sind sehr verschieden, bei der Mehrzahl sieht man, wie die Kunstpoesie der Zeit einzelne feine Redervendungen, ja auch die Dichtungsform und den Rhythmus geliehen hat. Den Soldaten des großen Kurfürsten und Friedrich II. z. B. war eine vornehme Redewendung den Krieg des „Martis Spiel" zu nennen und ihnen erschien der Fall des alexandrinischen Verses als besonders prächtig. Das Lied „Uebergabe von Stettin 1677" wurde nach der Melodie gesungen „Amarillis sage mir, warum willst du dich nicht geben". Es wurde gedichtet als Wechselgespräch zwischen dem Kurfürsten und der jungfräulichen Festung Stettin, dies in Erinnerung an ein Magde- durgisches Lied des 16. Jahrhunderts, wo die Wappenjungfrau Magdeburgs ihr Kränzlein gegen das Heer des Kurfürsten Moritz von Sachsen länger als ein Jahr vertheidigte. Aber die dialogisirende Form, in welcher die Parteien einander streitend gegenüber gestellt werden, kehrt in der Sammlung häufig wieder. Friedrich der Große und Maria Theresia singen ihre Verse gegeneinander, ebenso Napoleon und König von Preußen nach der Melodie „Guter Mond, du gehst so stille", und Napoleon und Blücher nach der Melodie „Himmel, was soll das bedeuten", wobei Napoleon gegen Blücher mit den Worten beginnt: „Jetzt, du Tausenschockschwerenöther", und Blücher, der vortrefflich charakterisirt ist. das Lied mit den Worten schließt: „Jungens, druff! Mit Gott soll's gehen, jetzt für König. Vaterland! Du. Napoleon wirst sehen, da hält nicht dein Glücke Stand!" Es ist vor diesem Soldatenliede des Jahres 1816 ein fröhlicher Ge- danke, daß dieselbe Form des Kampfgespräches wohl die älteste uns überlieferte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/42>, abgerufen am 18.12.2024.