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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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lebendige Verfassungsrecht springt grell in die Augen. Nicht minder würde
eine gesunde Realpolitik darauf nicht Verzicht leisten können, dem Grundgesetz
des Staates die endgiltige Festsetzung derjenigen Linien^zu überweisen, welche
die Staatsgewalt in ihrer legislativen, wie in ihrer erecutiven Wirksamkeit
den kommunalen Körpern gegenüber niemals überschreiten darf. Auch die
Gemeinde bedarf ihrer Habeascorpusacte, die sie ein für allemal innerhalb
gewisser Begrenzung in ihrem Haushalt, ihrer autonomen Organisation und
ihren Localstatuten dem Staate gegenüber für unverletzbar erklärt. Wenn
das Grundstatut des Staates selbst diesem nicht solche unverrückbare
Schranken seiner Hoheitsrechte zieht, behalten alle positiven Städte- und
Gemeinde-Ordnungen, mögen sie noch so wohlwollend speeialtsirt sein, den
Charakter precärer Verleihung. Was der Staat in freigebiger Stimmung
heute der individuellen und communalen Freiheit geschenkt, kann seine Ge¬
setzgebung morgen zurücknehmen. Aufmerksame Beobachter des Verfalls im
englischen Selfgovernment haben eins der wesentlichsten Symptome dieser
Auflösung darin gefunden, daß 1726 zuerst, dann seit 1835 allgemein die
Verfassungen der städtischen Corporationen im Widerspruch mit dem gemei¬
nen Rechte discretionär in das Bereich parlamentarischer Gesetzgebung ge¬
zogen wurden. "Diese Bill", erklärten 1725 die dissentirenden Lords, "wird
den alten Titel, aus dem die City ihre Rechte besitzt, gänzlich zerstören, und
eine neue Konstitution einführen, die nicht mehr auf dem alten Titel, son¬
dern auf Parlamentsacte beruht, was nach unserer Ueberzeugung für
die Zukunft die City, so oft.sie ihre Rechte zu vertheidigen hat, in unüber¬
sehbare Schwierigkeiten bringen muß."

Doch gehört diese grundgesetzliche Zwischenbemerkung vielleicht schon in
die Kategorie jener speculativen Betrachtungsweise, welche unser Verfasser
perhorrescirt. Jedenfalls soll sie den positiven Grundsätzen einer "Selbstver¬
waltung in Gemeinde und Kreis", welche in einem der vortrefflichsten Capitel
des Buchs entwickelt werden, Nichts an ihrem Werthe nehmen. Erkennt es
doch der Verfasser am Schlüsse des Capitels selbst an, daß alle Dtscussionen
über Selbstverwaltung nur dann zu vernünftigen Ergebnissen führen können,
wenn der Staat seine Verwaltung einschränkt und dem entsprechend seine
Verwaltungsbehörden reorganistrt und vereinfacht. Die Regierungsbezirke
und Bezirksregierungen sollen aufgehoben, nur die Provinzen in ihrer ge¬
schichtlich gewordenen und landschaftlich berechtigten Sonderexistenz als höhere
Verwaltungseinheiten erhalten, die Provinzialadministration aber "Ober-
Präsidien" mit collegialer Verfassung anvertraut werden. Selbstredend liegt
in dieser Reorganisationsfrage der springende Punkt in dem Maß derjenigen
materiellen Verwaltungsbefugnisse, welche den staatlichen Administrativbehörden
als solchen grundsätzlich genommen und an Kreis oder Gemeinde zu eigenem


lebendige Verfassungsrecht springt grell in die Augen. Nicht minder würde
eine gesunde Realpolitik darauf nicht Verzicht leisten können, dem Grundgesetz
des Staates die endgiltige Festsetzung derjenigen Linien^zu überweisen, welche
die Staatsgewalt in ihrer legislativen, wie in ihrer erecutiven Wirksamkeit
den kommunalen Körpern gegenüber niemals überschreiten darf. Auch die
Gemeinde bedarf ihrer Habeascorpusacte, die sie ein für allemal innerhalb
gewisser Begrenzung in ihrem Haushalt, ihrer autonomen Organisation und
ihren Localstatuten dem Staate gegenüber für unverletzbar erklärt. Wenn
das Grundstatut des Staates selbst diesem nicht solche unverrückbare
Schranken seiner Hoheitsrechte zieht, behalten alle positiven Städte- und
Gemeinde-Ordnungen, mögen sie noch so wohlwollend speeialtsirt sein, den
Charakter precärer Verleihung. Was der Staat in freigebiger Stimmung
heute der individuellen und communalen Freiheit geschenkt, kann seine Ge¬
setzgebung morgen zurücknehmen. Aufmerksame Beobachter des Verfalls im
englischen Selfgovernment haben eins der wesentlichsten Symptome dieser
Auflösung darin gefunden, daß 1726 zuerst, dann seit 1835 allgemein die
Verfassungen der städtischen Corporationen im Widerspruch mit dem gemei¬
nen Rechte discretionär in das Bereich parlamentarischer Gesetzgebung ge¬
zogen wurden. „Diese Bill", erklärten 1725 die dissentirenden Lords, „wird
den alten Titel, aus dem die City ihre Rechte besitzt, gänzlich zerstören, und
eine neue Konstitution einführen, die nicht mehr auf dem alten Titel, son¬
dern auf Parlamentsacte beruht, was nach unserer Ueberzeugung für
die Zukunft die City, so oft.sie ihre Rechte zu vertheidigen hat, in unüber¬
sehbare Schwierigkeiten bringen muß."

Doch gehört diese grundgesetzliche Zwischenbemerkung vielleicht schon in
die Kategorie jener speculativen Betrachtungsweise, welche unser Verfasser
perhorrescirt. Jedenfalls soll sie den positiven Grundsätzen einer „Selbstver¬
waltung in Gemeinde und Kreis", welche in einem der vortrefflichsten Capitel
des Buchs entwickelt werden, Nichts an ihrem Werthe nehmen. Erkennt es
doch der Verfasser am Schlüsse des Capitels selbst an, daß alle Dtscussionen
über Selbstverwaltung nur dann zu vernünftigen Ergebnissen führen können,
wenn der Staat seine Verwaltung einschränkt und dem entsprechend seine
Verwaltungsbehörden reorganistrt und vereinfacht. Die Regierungsbezirke
und Bezirksregierungen sollen aufgehoben, nur die Provinzen in ihrer ge¬
schichtlich gewordenen und landschaftlich berechtigten Sonderexistenz als höhere
Verwaltungseinheiten erhalten, die Provinzialadministration aber „Ober-
Präsidien" mit collegialer Verfassung anvertraut werden. Selbstredend liegt
in dieser Reorganisationsfrage der springende Punkt in dem Maß derjenigen
materiellen Verwaltungsbefugnisse, welche den staatlichen Administrativbehörden
als solchen grundsätzlich genommen und an Kreis oder Gemeinde zu eigenem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/418>, abgerufen am 28.07.2024.