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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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"Es wären zuerst die persönlichen Rechte der Staatsbürger festzustellen (Frei'
heit der Person und ihrer Complemente, freie Verfügung über Eigenthum
und Besitz, Beruf und Gewerbe, Rede und Schrift, Versammlung und Ver¬
einigung; Schutz dieser Rechte), sodann die Grundzüge der Gemeindever-
fassung, die Organisation der Kreise und Provinzen, schließlich die Bildung
der Volksvertretung und Behörden des ganzen Staats. Jedes der betreffen¬
den Gesetze würde die Materie, welche es behandelt, vollständig regeln und
ließe sich dann ohne alle Schwierigkeit je nach den Bedürfnissen der Zeit
abändern oder umgestalten, ohne daß die anderen mehr, als nöthig, be¬
rührt würden." -- Das sind gewiß sehr beherzigenswerthe und für die po¬
litische Praxis heilsame Wahrheiten. Nur einen Gesichtspunkt wüßte ich
hinzuzufügen, der mir zur Rechtfertigung moderner konstitutioneller Grund¬
gesetze wesentlich erscheint. Den liberalen Bewegungskräften auf dem Con-
tinent war es nun einmal nicht vergönnt, in naturgemäß fortschreitender
Entwickelung und Erziehung der verschiedenen Bestandtheile des Volks zur
Theilnahme an den Staatsgeschäften ein volksthümliches Verfassungsrecht
herauszubilden. Auf lange Perioden eines naturwidriger Stillstandes im
politischen Leben folgten gewaltsame Conflicte revolutionären Charakters,
plötzliche Eruptionen der niedergehaltenen Kräfte und in der Vereinbarung
einer Charte ein rascher Friedenspakt zwischen den feindlichen Elementen der
Herrschaft und Freiheit. Es konnte nicht anders sein, als daß in derartigen
Grundstatuten möglichst im Fluge Alles summarisch zusammengefaßt wurde,
was an alten Versäumnissen, an lange Zeit unbefriedigten Reformbedürfnissen,
an neuen Ordnungen nachzuholen, auszugleichen und Grund zu legen war. Es
konnte nicht ausbleiben, daß solches Verfassungswerk in allgemeinen Ver¬
heißungen das Meiste zu sichern suchte, und die Gewähr für die demnächst!^
Erfüllung der Volkswünsche nicht in der gründlichen Fundamentirung der
Volksrechte, sondern in einigen mechanisch schnell realisirbaren Handhaben
parlamentarischer Volksvertretung fand. Revolutionäre Krisen sind keine
Zeit für organische Reformarbeit, und wie wir zu unserem Schaden erfahren
mußten, sind sie auch nicht geeignet, durch Staatsgrundgesetze solche Reform
anzubahnen. Der Irrthum in dieser Voraussetzung wurzelt aber in dem
historischen Verhängniß einer einmal durchbrochenen Continuität der politischen
Rechtsentwickelung. Ob es genügt, den Irrthum erkannt zu haben, um auch
die gesunden Anknüpfungen für die Reformgesetzgebung zurückzugewinnen, ist
schwer zu sagen. Oft genug hat schon der Anlauf hierzu ausgereicht, um
die Streitfrage zurückzuwerfen auf den ursprünglichen Confltkt um die Existenz
des Staatsgrundgesetzes.

Ist nun auch unter den jetzigen Zeitläufen, welche entschieden einer ein¬
heitsstaatlichen Centralisation zu gravttiren. nur geringe Aussicht vorhanden,


„Es wären zuerst die persönlichen Rechte der Staatsbürger festzustellen (Frei'
heit der Person und ihrer Complemente, freie Verfügung über Eigenthum
und Besitz, Beruf und Gewerbe, Rede und Schrift, Versammlung und Ver¬
einigung; Schutz dieser Rechte), sodann die Grundzüge der Gemeindever-
fassung, die Organisation der Kreise und Provinzen, schließlich die Bildung
der Volksvertretung und Behörden des ganzen Staats. Jedes der betreffen¬
den Gesetze würde die Materie, welche es behandelt, vollständig regeln und
ließe sich dann ohne alle Schwierigkeit je nach den Bedürfnissen der Zeit
abändern oder umgestalten, ohne daß die anderen mehr, als nöthig, be¬
rührt würden." — Das sind gewiß sehr beherzigenswerthe und für die po¬
litische Praxis heilsame Wahrheiten. Nur einen Gesichtspunkt wüßte ich
hinzuzufügen, der mir zur Rechtfertigung moderner konstitutioneller Grund¬
gesetze wesentlich erscheint. Den liberalen Bewegungskräften auf dem Con-
tinent war es nun einmal nicht vergönnt, in naturgemäß fortschreitender
Entwickelung und Erziehung der verschiedenen Bestandtheile des Volks zur
Theilnahme an den Staatsgeschäften ein volksthümliches Verfassungsrecht
herauszubilden. Auf lange Perioden eines naturwidriger Stillstandes im
politischen Leben folgten gewaltsame Conflicte revolutionären Charakters,
plötzliche Eruptionen der niedergehaltenen Kräfte und in der Vereinbarung
einer Charte ein rascher Friedenspakt zwischen den feindlichen Elementen der
Herrschaft und Freiheit. Es konnte nicht anders sein, als daß in derartigen
Grundstatuten möglichst im Fluge Alles summarisch zusammengefaßt wurde,
was an alten Versäumnissen, an lange Zeit unbefriedigten Reformbedürfnissen,
an neuen Ordnungen nachzuholen, auszugleichen und Grund zu legen war. Es
konnte nicht ausbleiben, daß solches Verfassungswerk in allgemeinen Ver¬
heißungen das Meiste zu sichern suchte, und die Gewähr für die demnächst!^
Erfüllung der Volkswünsche nicht in der gründlichen Fundamentirung der
Volksrechte, sondern in einigen mechanisch schnell realisirbaren Handhaben
parlamentarischer Volksvertretung fand. Revolutionäre Krisen sind keine
Zeit für organische Reformarbeit, und wie wir zu unserem Schaden erfahren
mußten, sind sie auch nicht geeignet, durch Staatsgrundgesetze solche Reform
anzubahnen. Der Irrthum in dieser Voraussetzung wurzelt aber in dem
historischen Verhängniß einer einmal durchbrochenen Continuität der politischen
Rechtsentwickelung. Ob es genügt, den Irrthum erkannt zu haben, um auch
die gesunden Anknüpfungen für die Reformgesetzgebung zurückzugewinnen, ist
schwer zu sagen. Oft genug hat schon der Anlauf hierzu ausgereicht, um
die Streitfrage zurückzuwerfen auf den ursprünglichen Confltkt um die Existenz
des Staatsgrundgesetzes.

Ist nun auch unter den jetzigen Zeitläufen, welche entschieden einer ein¬
heitsstaatlichen Centralisation zu gravttiren. nur geringe Aussicht vorhanden,


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[0416] „Es wären zuerst die persönlichen Rechte der Staatsbürger festzustellen (Frei' heit der Person und ihrer Complemente, freie Verfügung über Eigenthum und Besitz, Beruf und Gewerbe, Rede und Schrift, Versammlung und Ver¬ einigung; Schutz dieser Rechte), sodann die Grundzüge der Gemeindever- fassung, die Organisation der Kreise und Provinzen, schließlich die Bildung der Volksvertretung und Behörden des ganzen Staats. Jedes der betreffen¬ den Gesetze würde die Materie, welche es behandelt, vollständig regeln und ließe sich dann ohne alle Schwierigkeit je nach den Bedürfnissen der Zeit abändern oder umgestalten, ohne daß die anderen mehr, als nöthig, be¬ rührt würden." — Das sind gewiß sehr beherzigenswerthe und für die po¬ litische Praxis heilsame Wahrheiten. Nur einen Gesichtspunkt wüßte ich hinzuzufügen, der mir zur Rechtfertigung moderner konstitutioneller Grund¬ gesetze wesentlich erscheint. Den liberalen Bewegungskräften auf dem Con- tinent war es nun einmal nicht vergönnt, in naturgemäß fortschreitender Entwickelung und Erziehung der verschiedenen Bestandtheile des Volks zur Theilnahme an den Staatsgeschäften ein volksthümliches Verfassungsrecht herauszubilden. Auf lange Perioden eines naturwidriger Stillstandes im politischen Leben folgten gewaltsame Conflicte revolutionären Charakters, plötzliche Eruptionen der niedergehaltenen Kräfte und in der Vereinbarung einer Charte ein rascher Friedenspakt zwischen den feindlichen Elementen der Herrschaft und Freiheit. Es konnte nicht anders sein, als daß in derartigen Grundstatuten möglichst im Fluge Alles summarisch zusammengefaßt wurde, was an alten Versäumnissen, an lange Zeit unbefriedigten Reformbedürfnissen, an neuen Ordnungen nachzuholen, auszugleichen und Grund zu legen war. Es konnte nicht ausbleiben, daß solches Verfassungswerk in allgemeinen Ver¬ heißungen das Meiste zu sichern suchte, und die Gewähr für die demnächst!^ Erfüllung der Volkswünsche nicht in der gründlichen Fundamentirung der Volksrechte, sondern in einigen mechanisch schnell realisirbaren Handhaben parlamentarischer Volksvertretung fand. Revolutionäre Krisen sind keine Zeit für organische Reformarbeit, und wie wir zu unserem Schaden erfahren mußten, sind sie auch nicht geeignet, durch Staatsgrundgesetze solche Reform anzubahnen. Der Irrthum in dieser Voraussetzung wurzelt aber in dem historischen Verhängniß einer einmal durchbrochenen Continuität der politischen Rechtsentwickelung. Ob es genügt, den Irrthum erkannt zu haben, um auch die gesunden Anknüpfungen für die Reformgesetzgebung zurückzugewinnen, ist schwer zu sagen. Oft genug hat schon der Anlauf hierzu ausgereicht, um die Streitfrage zurückzuwerfen auf den ursprünglichen Confltkt um die Existenz des Staatsgrundgesetzes. Ist nun auch unter den jetzigen Zeitläufen, welche entschieden einer ein¬ heitsstaatlichen Centralisation zu gravttiren. nur geringe Aussicht vorhanden,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/416>, abgerufen am 01.09.2024.