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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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Wie Reform der preußischen Verfassung.

Die Reform der preußischen Verfassung. Leipzig, Duncker und Humblot. 1370.

Verfassungsreform! Klingt uns das Wort heute nicht schon wie eine
wehmüthige Rückerinnerung an längst vergangene Zeiten, an halbvergessene
Tage eines friedlichen constitutionellen Stilllebens, beschaulichen politischen
Denkens, einfacher Gegensätze und bescheidener Wünsche? Was ist uns in
dem neuen Deutschland noch die preußische Charte vom 31. Januar 1850
mit ihren Verheißungen, ihren ungelösten oder unlösbaren Problemen? Der
alte Waldeck ist todt, und mit ihm ist wohl der beste Mann jenes Geschlechts
dahingegangen, das mit seinem Herzblut sich hineingelebt hatte in den preu¬
ßischen Constitutionalismus des Jahres 1848.

Diejenigen Parteien Preußens, die gegenwärtig sich noch in eine Art von
Begeisterung für die preußische Charte in die Höhe zu schrauben lieben, seien
°s die Fortschrittsleute von der demokratischen Farbe der Herren v. Bockum-
Dollfs oder Duncker, oder seien es die Herrenhäusler vom Schlage des Grafen
zur Lippe, werden schwerlich den zerbröckelten Formen neue Lebenskraft ein¬
hauchen; ist diese ganze constitutionelle Liebhaberei bei ihnen doch nur eine
Ziemlich desperate Donquixoterie, die sich an das verzerrte Bild der Charte
klammert, um der bedenklichen preußisch-deutschen Reichsordnung etwas Po¬
sitives entgegenzusetzen. Inzwischen wandelt diese Reichsordnung ihre
eigenen labyrinthtschen Bahnen stetig fort und gibt allem preußischen Ver¬
fassungswesen eine so fragwürdige Gestalt, daß ein ernsthaft denkender Kopf
schier daran verzweifeln muß, zur Zeit sich auch nur annähernd eine Vor¬
stellung zu machen, von welcher Form und inneren Bildung schließlich der
preußisch-deutsche Staatsorganismus dann sein wird, wann seine Geschicke sich
erfüllt haben. Die Complicationen zwischen der norddeutschen Bundesgewalt
und preußischen Staatsgewalt sind so ins Unglaubliche verwickelt, die Ber-
liner Gesetzgebungsmaschine arbeitet im Reichstag wie im Landtag mit einem
s° sinnverwirrenden Getöse, und es steht so viel der treibenden Kraft hier wie
d°re auf zwei sterblichen Augen, daß man recht, recht weit in die Zeiten
bwausschauen muß. um den Glauben an das erhabene Ziel einer großen ge-
schichtlichen Entwickelung deutscher Nation festzuhalten.

Der Verfasser der oben citirten Schrift theilt die Ansicht von der pre-
cären Natur der preußischen Verfassung nicht. Er meint im Borwort, "daß
Gesetzgebung des Bundes nach der Verfassung desselben ihre Competenz
doch nicht über einen definitiven Kreis hinaus ausdehnen könne, die wehend-
"chsten inneren Aufgaben vielmehr nach wie vor den Cinzelstaaten überlassen


Wie Reform der preußischen Verfassung.

Die Reform der preußischen Verfassung. Leipzig, Duncker und Humblot. 1370.

Verfassungsreform! Klingt uns das Wort heute nicht schon wie eine
wehmüthige Rückerinnerung an längst vergangene Zeiten, an halbvergessene
Tage eines friedlichen constitutionellen Stilllebens, beschaulichen politischen
Denkens, einfacher Gegensätze und bescheidener Wünsche? Was ist uns in
dem neuen Deutschland noch die preußische Charte vom 31. Januar 1850
mit ihren Verheißungen, ihren ungelösten oder unlösbaren Problemen? Der
alte Waldeck ist todt, und mit ihm ist wohl der beste Mann jenes Geschlechts
dahingegangen, das mit seinem Herzblut sich hineingelebt hatte in den preu¬
ßischen Constitutionalismus des Jahres 1848.

Diejenigen Parteien Preußens, die gegenwärtig sich noch in eine Art von
Begeisterung für die preußische Charte in die Höhe zu schrauben lieben, seien
°s die Fortschrittsleute von der demokratischen Farbe der Herren v. Bockum-
Dollfs oder Duncker, oder seien es die Herrenhäusler vom Schlage des Grafen
zur Lippe, werden schwerlich den zerbröckelten Formen neue Lebenskraft ein¬
hauchen; ist diese ganze constitutionelle Liebhaberei bei ihnen doch nur eine
Ziemlich desperate Donquixoterie, die sich an das verzerrte Bild der Charte
klammert, um der bedenklichen preußisch-deutschen Reichsordnung etwas Po¬
sitives entgegenzusetzen. Inzwischen wandelt diese Reichsordnung ihre
eigenen labyrinthtschen Bahnen stetig fort und gibt allem preußischen Ver¬
fassungswesen eine so fragwürdige Gestalt, daß ein ernsthaft denkender Kopf
schier daran verzweifeln muß, zur Zeit sich auch nur annähernd eine Vor¬
stellung zu machen, von welcher Form und inneren Bildung schließlich der
preußisch-deutsche Staatsorganismus dann sein wird, wann seine Geschicke sich
erfüllt haben. Die Complicationen zwischen der norddeutschen Bundesgewalt
und preußischen Staatsgewalt sind so ins Unglaubliche verwickelt, die Ber-
liner Gesetzgebungsmaschine arbeitet im Reichstag wie im Landtag mit einem
s° sinnverwirrenden Getöse, und es steht so viel der treibenden Kraft hier wie
d°re auf zwei sterblichen Augen, daß man recht, recht weit in die Zeiten
bwausschauen muß. um den Glauben an das erhabene Ziel einer großen ge-
schichtlichen Entwickelung deutscher Nation festzuhalten.

Der Verfasser der oben citirten Schrift theilt die Ansicht von der pre-
cären Natur der preußischen Verfassung nicht. Er meint im Borwort, „daß
Gesetzgebung des Bundes nach der Verfassung desselben ihre Competenz
doch nicht über einen definitiven Kreis hinaus ausdehnen könne, die wehend-
"chsten inneren Aufgaben vielmehr nach wie vor den Cinzelstaaten überlassen


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[0413] Wie Reform der preußischen Verfassung. Die Reform der preußischen Verfassung. Leipzig, Duncker und Humblot. 1370. Verfassungsreform! Klingt uns das Wort heute nicht schon wie eine wehmüthige Rückerinnerung an längst vergangene Zeiten, an halbvergessene Tage eines friedlichen constitutionellen Stilllebens, beschaulichen politischen Denkens, einfacher Gegensätze und bescheidener Wünsche? Was ist uns in dem neuen Deutschland noch die preußische Charte vom 31. Januar 1850 mit ihren Verheißungen, ihren ungelösten oder unlösbaren Problemen? Der alte Waldeck ist todt, und mit ihm ist wohl der beste Mann jenes Geschlechts dahingegangen, das mit seinem Herzblut sich hineingelebt hatte in den preu¬ ßischen Constitutionalismus des Jahres 1848. Diejenigen Parteien Preußens, die gegenwärtig sich noch in eine Art von Begeisterung für die preußische Charte in die Höhe zu schrauben lieben, seien °s die Fortschrittsleute von der demokratischen Farbe der Herren v. Bockum- Dollfs oder Duncker, oder seien es die Herrenhäusler vom Schlage des Grafen zur Lippe, werden schwerlich den zerbröckelten Formen neue Lebenskraft ein¬ hauchen; ist diese ganze constitutionelle Liebhaberei bei ihnen doch nur eine Ziemlich desperate Donquixoterie, die sich an das verzerrte Bild der Charte klammert, um der bedenklichen preußisch-deutschen Reichsordnung etwas Po¬ sitives entgegenzusetzen. Inzwischen wandelt diese Reichsordnung ihre eigenen labyrinthtschen Bahnen stetig fort und gibt allem preußischen Ver¬ fassungswesen eine so fragwürdige Gestalt, daß ein ernsthaft denkender Kopf schier daran verzweifeln muß, zur Zeit sich auch nur annähernd eine Vor¬ stellung zu machen, von welcher Form und inneren Bildung schließlich der preußisch-deutsche Staatsorganismus dann sein wird, wann seine Geschicke sich erfüllt haben. Die Complicationen zwischen der norddeutschen Bundesgewalt und preußischen Staatsgewalt sind so ins Unglaubliche verwickelt, die Ber- liner Gesetzgebungsmaschine arbeitet im Reichstag wie im Landtag mit einem s° sinnverwirrenden Getöse, und es steht so viel der treibenden Kraft hier wie d°re auf zwei sterblichen Augen, daß man recht, recht weit in die Zeiten bwausschauen muß. um den Glauben an das erhabene Ziel einer großen ge- schichtlichen Entwickelung deutscher Nation festzuhalten. Der Verfasser der oben citirten Schrift theilt die Ansicht von der pre- cären Natur der preußischen Verfassung nicht. Er meint im Borwort, „daß Gesetzgebung des Bundes nach der Verfassung desselben ihre Competenz doch nicht über einen definitiven Kreis hinaus ausdehnen könne, die wehend- "chsten inneren Aufgaben vielmehr nach wie vor den Cinzelstaaten überlassen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/413>, abgerufen am 18.12.2024.