Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Es könnte seltsam erscheinen, daß unsere allzeit schreibfertige Gegenwart
bis heute es noch zu keinem Buche über preußisches Staatsrecht gebracht hat,
und es liegt nahe, über die Ursache davon nachzudenken. Man würde sehr
irren, suchte man sie in gewissen zufälligen Thatsachen, z. B. darin, daß un¬
sere preußischen Juristen, wie die Erfahrung zeigt, überhaupt eine relativ ge-
ringere literarische Thätigkeit entfalten, als ihre Zahl und das Interesse ihres
Berufsfaches erwarten läßt. Ueberdies gilt dies auch nur von den eigentlichen
Practikern; die juristischen Docenten an den preußischen Universitäten pro-
duciren durchschnittlich ebenso viel wie ihre anderen deutschen College". Der
Grund liegt tiefer, in der unfertigen Natur des preußischen Staatswesens
überhaupt, wie es sich in seiner geschichtlichen Action bis zu dem Jahre 1866
darstellt. Deutsch in allen seinen Grundstoffen und im deutschen Geiste
herangewachsen, konnte der Staat doch den Stempel einer Eigenart nicht
verleugnen, eben jenes specifische Etwas, das ihn zu einem preußischen machte.
Aber wie weit dieses Etwas die ursprünglichen Elemente umgewandelt habe
oder umzuformen berechtigt sei, darüber war sich der Staatsgeist selbst, so
weit er sich in seinen berufenen leitenden Organen, aber auch nicht weniger
in dem eigentlichen Material des Staates, im Volke, darstellte, völlig unklar.
In einer schüchternen Passivität, die von allen Uebelwollenden und vielen
Ungeduldigen, als eine an Feigheit streifende Indolenz verstanden wurde,
vegetirte er, kaum durch die Katastrophe von 1849 etwas aufgerüttelt, keines¬
wegs aber zur Selbstbesinnung gebracht bis zu seiner neuesten glorreichen
That, der Zertrümmerung des zusammengeflickten Bundes, der sich den Namen
"deutsch" anmaßte, und der Schöpfung eines in Form und Gehalt neuen
Staatsgebildes, das eben deshalb der im Ganzen correcte. wenn auch im
Einzelnen noch unfertige Ausdruck seiner Eigenart ist. Wer hätte es unter¬
nehmen wollen, jene staatliche Zwittergestaltung des Preußens vor 1866 auf
feste Begriffe zurückzuführen oder aus ihr eine systematische Doctrin für die
Zukunft abzuleiten? Es mußte auch hier wie überall die That, aus dem
Bedürfniß des Staats geboren, der Reflexion die Augen öffnen, damit sie
sehen und urtheilen lernte. Heute vielleicht kann man ein preußisches Staats¬
recht construiren, weil der preußische Staat sich als solcher festgestellt hat,
vorher wäre es eine Danaidenarbeit gewesen.

Der Verfasser gibt uns in seiner wissenschaftlichen Thätigkeit selbst eine"
anschaulichen Beweis für das eben gesagte. 1866, also vor der Entschei'
dungsstunde, veröffentlichte er sein umfänglich angelegtes System des deut¬
schen Staatsrechtes. Damals erschien nur die erste Abtheilung, die geschicht¬
liche Einleitung enthaltend. Die anderen sind nicht gefolgt, wohl aber im
Jahre 1867 eine Umarbeitung dieser Einleitung, in welche schon der volle Ge¬
halt der weltgeschichtlichen Ereignisse von 1866 aufgenommen ist. Wir haben


Es könnte seltsam erscheinen, daß unsere allzeit schreibfertige Gegenwart
bis heute es noch zu keinem Buche über preußisches Staatsrecht gebracht hat,
und es liegt nahe, über die Ursache davon nachzudenken. Man würde sehr
irren, suchte man sie in gewissen zufälligen Thatsachen, z. B. darin, daß un¬
sere preußischen Juristen, wie die Erfahrung zeigt, überhaupt eine relativ ge-
ringere literarische Thätigkeit entfalten, als ihre Zahl und das Interesse ihres
Berufsfaches erwarten läßt. Ueberdies gilt dies auch nur von den eigentlichen
Practikern; die juristischen Docenten an den preußischen Universitäten pro-
duciren durchschnittlich ebenso viel wie ihre anderen deutschen College». Der
Grund liegt tiefer, in der unfertigen Natur des preußischen Staatswesens
überhaupt, wie es sich in seiner geschichtlichen Action bis zu dem Jahre 1866
darstellt. Deutsch in allen seinen Grundstoffen und im deutschen Geiste
herangewachsen, konnte der Staat doch den Stempel einer Eigenart nicht
verleugnen, eben jenes specifische Etwas, das ihn zu einem preußischen machte.
Aber wie weit dieses Etwas die ursprünglichen Elemente umgewandelt habe
oder umzuformen berechtigt sei, darüber war sich der Staatsgeist selbst, so
weit er sich in seinen berufenen leitenden Organen, aber auch nicht weniger
in dem eigentlichen Material des Staates, im Volke, darstellte, völlig unklar.
In einer schüchternen Passivität, die von allen Uebelwollenden und vielen
Ungeduldigen, als eine an Feigheit streifende Indolenz verstanden wurde,
vegetirte er, kaum durch die Katastrophe von 1849 etwas aufgerüttelt, keines¬
wegs aber zur Selbstbesinnung gebracht bis zu seiner neuesten glorreichen
That, der Zertrümmerung des zusammengeflickten Bundes, der sich den Namen
„deutsch" anmaßte, und der Schöpfung eines in Form und Gehalt neuen
Staatsgebildes, das eben deshalb der im Ganzen correcte. wenn auch im
Einzelnen noch unfertige Ausdruck seiner Eigenart ist. Wer hätte es unter¬
nehmen wollen, jene staatliche Zwittergestaltung des Preußens vor 1866 auf
feste Begriffe zurückzuführen oder aus ihr eine systematische Doctrin für die
Zukunft abzuleiten? Es mußte auch hier wie überall die That, aus dem
Bedürfniß des Staats geboren, der Reflexion die Augen öffnen, damit sie
sehen und urtheilen lernte. Heute vielleicht kann man ein preußisches Staats¬
recht construiren, weil der preußische Staat sich als solcher festgestellt hat,
vorher wäre es eine Danaidenarbeit gewesen.

Der Verfasser gibt uns in seiner wissenschaftlichen Thätigkeit selbst eine»
anschaulichen Beweis für das eben gesagte. 1866, also vor der Entschei'
dungsstunde, veröffentlichte er sein umfänglich angelegtes System des deut¬
schen Staatsrechtes. Damals erschien nur die erste Abtheilung, die geschicht¬
liche Einleitung enthaltend. Die anderen sind nicht gefolgt, wohl aber im
Jahre 1867 eine Umarbeitung dieser Einleitung, in welche schon der volle Ge¬
halt der weltgeschichtlichen Ereignisse von 1866 aufgenommen ist. Wir haben


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0396" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/124016"/>
          <p xml:id="ID_1202"> Es könnte seltsam erscheinen, daß unsere allzeit schreibfertige Gegenwart<lb/>
bis heute es noch zu keinem Buche über preußisches Staatsrecht gebracht hat,<lb/>
und es liegt nahe, über die Ursache davon nachzudenken. Man würde sehr<lb/>
irren, suchte man sie in gewissen zufälligen Thatsachen, z. B. darin, daß un¬<lb/>
sere preußischen Juristen, wie die Erfahrung zeigt, überhaupt eine relativ ge-<lb/>
ringere literarische Thätigkeit entfalten, als ihre Zahl und das Interesse ihres<lb/>
Berufsfaches erwarten läßt. Ueberdies gilt dies auch nur von den eigentlichen<lb/>
Practikern; die juristischen Docenten an den preußischen Universitäten pro-<lb/>
duciren durchschnittlich ebenso viel wie ihre anderen deutschen College». Der<lb/>
Grund liegt tiefer, in der unfertigen Natur des preußischen Staatswesens<lb/>
überhaupt, wie es sich in seiner geschichtlichen Action bis zu dem Jahre 1866<lb/>
darstellt. Deutsch in allen seinen Grundstoffen und im deutschen Geiste<lb/>
herangewachsen, konnte der Staat doch den Stempel einer Eigenart nicht<lb/>
verleugnen, eben jenes specifische Etwas, das ihn zu einem preußischen machte.<lb/>
Aber wie weit dieses Etwas die ursprünglichen Elemente umgewandelt habe<lb/>
oder umzuformen berechtigt sei, darüber war sich der Staatsgeist selbst, so<lb/>
weit er sich in seinen berufenen leitenden Organen, aber auch nicht weniger<lb/>
in dem eigentlichen Material des Staates, im Volke, darstellte, völlig unklar.<lb/>
In einer schüchternen Passivität, die von allen Uebelwollenden und vielen<lb/>
Ungeduldigen, als eine an Feigheit streifende Indolenz verstanden wurde,<lb/>
vegetirte er, kaum durch die Katastrophe von 1849 etwas aufgerüttelt, keines¬<lb/>
wegs aber zur Selbstbesinnung gebracht bis zu seiner neuesten glorreichen<lb/>
That, der Zertrümmerung des zusammengeflickten Bundes, der sich den Namen<lb/>
&#x201E;deutsch" anmaßte, und der Schöpfung eines in Form und Gehalt neuen<lb/>
Staatsgebildes, das eben deshalb der im Ganzen correcte. wenn auch im<lb/>
Einzelnen noch unfertige Ausdruck seiner Eigenart ist. Wer hätte es unter¬<lb/>
nehmen wollen, jene staatliche Zwittergestaltung des Preußens vor 1866 auf<lb/>
feste Begriffe zurückzuführen oder aus ihr eine systematische Doctrin für die<lb/>
Zukunft abzuleiten? Es mußte auch hier wie überall die That, aus dem<lb/>
Bedürfniß des Staats geboren, der Reflexion die Augen öffnen, damit sie<lb/>
sehen und urtheilen lernte. Heute vielleicht kann man ein preußisches Staats¬<lb/>
recht construiren, weil der preußische Staat sich als solcher festgestellt hat,<lb/>
vorher wäre es eine Danaidenarbeit gewesen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1203" next="#ID_1204"> Der Verfasser gibt uns in seiner wissenschaftlichen Thätigkeit selbst eine»<lb/>
anschaulichen Beweis für das eben gesagte. 1866, also vor der Entschei'<lb/>
dungsstunde, veröffentlichte er sein umfänglich angelegtes System des deut¬<lb/>
schen Staatsrechtes. Damals erschien nur die erste Abtheilung, die geschicht¬<lb/>
liche Einleitung enthaltend. Die anderen sind nicht gefolgt, wohl aber im<lb/>
Jahre 1867 eine Umarbeitung dieser Einleitung, in welche schon der volle Ge¬<lb/>
halt der weltgeschichtlichen Ereignisse von 1866 aufgenommen ist. Wir haben</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0396] Es könnte seltsam erscheinen, daß unsere allzeit schreibfertige Gegenwart bis heute es noch zu keinem Buche über preußisches Staatsrecht gebracht hat, und es liegt nahe, über die Ursache davon nachzudenken. Man würde sehr irren, suchte man sie in gewissen zufälligen Thatsachen, z. B. darin, daß un¬ sere preußischen Juristen, wie die Erfahrung zeigt, überhaupt eine relativ ge- ringere literarische Thätigkeit entfalten, als ihre Zahl und das Interesse ihres Berufsfaches erwarten läßt. Ueberdies gilt dies auch nur von den eigentlichen Practikern; die juristischen Docenten an den preußischen Universitäten pro- duciren durchschnittlich ebenso viel wie ihre anderen deutschen College». Der Grund liegt tiefer, in der unfertigen Natur des preußischen Staatswesens überhaupt, wie es sich in seiner geschichtlichen Action bis zu dem Jahre 1866 darstellt. Deutsch in allen seinen Grundstoffen und im deutschen Geiste herangewachsen, konnte der Staat doch den Stempel einer Eigenart nicht verleugnen, eben jenes specifische Etwas, das ihn zu einem preußischen machte. Aber wie weit dieses Etwas die ursprünglichen Elemente umgewandelt habe oder umzuformen berechtigt sei, darüber war sich der Staatsgeist selbst, so weit er sich in seinen berufenen leitenden Organen, aber auch nicht weniger in dem eigentlichen Material des Staates, im Volke, darstellte, völlig unklar. In einer schüchternen Passivität, die von allen Uebelwollenden und vielen Ungeduldigen, als eine an Feigheit streifende Indolenz verstanden wurde, vegetirte er, kaum durch die Katastrophe von 1849 etwas aufgerüttelt, keines¬ wegs aber zur Selbstbesinnung gebracht bis zu seiner neuesten glorreichen That, der Zertrümmerung des zusammengeflickten Bundes, der sich den Namen „deutsch" anmaßte, und der Schöpfung eines in Form und Gehalt neuen Staatsgebildes, das eben deshalb der im Ganzen correcte. wenn auch im Einzelnen noch unfertige Ausdruck seiner Eigenart ist. Wer hätte es unter¬ nehmen wollen, jene staatliche Zwittergestaltung des Preußens vor 1866 auf feste Begriffe zurückzuführen oder aus ihr eine systematische Doctrin für die Zukunft abzuleiten? Es mußte auch hier wie überall die That, aus dem Bedürfniß des Staats geboren, der Reflexion die Augen öffnen, damit sie sehen und urtheilen lernte. Heute vielleicht kann man ein preußisches Staats¬ recht construiren, weil der preußische Staat sich als solcher festgestellt hat, vorher wäre es eine Danaidenarbeit gewesen. Der Verfasser gibt uns in seiner wissenschaftlichen Thätigkeit selbst eine» anschaulichen Beweis für das eben gesagte. 1866, also vor der Entschei' dungsstunde, veröffentlichte er sein umfänglich angelegtes System des deut¬ schen Staatsrechtes. Damals erschien nur die erste Abtheilung, die geschicht¬ liche Einleitung enthaltend. Die anderen sind nicht gefolgt, wohl aber im Jahre 1867 eine Umarbeitung dieser Einleitung, in welche schon der volle Ge¬ halt der weltgeschichtlichen Ereignisse von 1866 aufgenommen ist. Wir haben

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/396
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/396>, abgerufen am 01.09.2024.