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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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gebers ist, den Gedanken des Volkes und den Bedürfnissen des Tageslebens
vorgreifend, Neues zu erfinden und auf leerem Boden ein frisches System, ein
fremdes heilbringendes Leben zu gründen; sondern daß der Gesetzgeber viel¬
mehr prüfend zu untersuchen hat. ob Bedürfniß und Forderung, welche neu
erstehen, nicht nur an sich wohl berechtigt, sondern auch im Bewußtsein der
Zeitgenossen so kräftig durchgebildet sind, daß das bestehende Alte ihnen
gegenüber als ein Abgelebtes zum allgemeinen Nutzen beseitigt werden muß.
Wir messen die Weisheit eines Staatsmannes zum großen Theil darnach, ob
sein Verständniß für das Vernünftige und Zweckmäßige neuer Gesetzgebung,
und ob sein Urtheil über den richtigen Zeitpunkt dafür dem unseren entspricht.

Ob gegenwärtig die Aufhebung der Todesstrafe eine volksthümliche For¬
derung sei, darüber wird gestritten. Ja sogar darüber, ob die ethische Em¬
pfindung in dem verhältnißmäßig kleinen Kreise der sogenannten Gebildeten
zur Zeit dringend die Beseitigung einer gesetzlichen Tödtung des Menschen
fordere. Denn die Frage ist verhältnißmäßig neu. nicht Jeder hat der alten
Tradition gegenüber sich eine selbständige Ansicht gebildet. Die Abschaffung
ist in einigen Landschaften Deutschlands länger erörtert und mehr in die Ge¬
danken der Menschen eingedrungen, als in anderen.

Es ist serner richtig, daß auch die Frage noch nicht endgiltig durch die
Erfahrung entschieden ist, ob die Verhängung der Todesstrafe durch ordent¬
liches Gericht eine nützliche, wenn auch sehr bedauernswerthe Nothwehr des
Staates sei. Deshalb befriedigen die Zweckmäßigkeitsgründe, welche dafür
und dagegen vorgebracht werden, zur Zeit noch wenig.

Nur das ist unzweifelhaft, daß die Gegner der Todesstrafe von einer
höheren Auffassung des irdischen Lebens ausgehen, als die Vertheidiger; und
wenn der Bundeskanzler den Gegnern Sentimentalität vorwarf, dürfen sie
ihm mit Grund entgegnen, daß seine eigene niedrigere Schätzung des mensch¬
lichen Lebens auf Erden an einer Inconsequenz leidet. Denn gerade wenn
er dies Leben nur für eine unvollkommene Vorstufe des besseren Jenseits
hält, wie er bekannte, und als einen vorläufigen Aufenthalt, an welchem so
unermeßlich viel nicht gelegen sei, müßte ihn die christliche Auffassung von Reue
und Buße auch dazu sühren, dem Verbrecher hier auf Erden die mögliche
Gelegenheit zu einer Umwandlung seines Innern nicht zu verkürzen, weil ja
von dieser Bekehrung die sociale Lage desselben im Jenseits abhängen würde.

Aber die Rücksicht auf die Unglücklichen und Elenden, welche gewaltthätig
S^en das Gesetz ein Menschenleben vernichtet haben, dünkt uns gar nicht
^nzige humane Rücksicht zu sein, welche der Gesetzgeber hier zu nehmen
hat. Nicht weniger menschlich und politisch wichtiger erscheint, die deutschen
Souveräne von dem furchtbaren Vorrecht der Gnade und Verdammung zu
befreien. Es war bisher das rohe Auskunftsmittel der bedrängten Huma-


gebers ist, den Gedanken des Volkes und den Bedürfnissen des Tageslebens
vorgreifend, Neues zu erfinden und auf leerem Boden ein frisches System, ein
fremdes heilbringendes Leben zu gründen; sondern daß der Gesetzgeber viel¬
mehr prüfend zu untersuchen hat. ob Bedürfniß und Forderung, welche neu
erstehen, nicht nur an sich wohl berechtigt, sondern auch im Bewußtsein der
Zeitgenossen so kräftig durchgebildet sind, daß das bestehende Alte ihnen
gegenüber als ein Abgelebtes zum allgemeinen Nutzen beseitigt werden muß.
Wir messen die Weisheit eines Staatsmannes zum großen Theil darnach, ob
sein Verständniß für das Vernünftige und Zweckmäßige neuer Gesetzgebung,
und ob sein Urtheil über den richtigen Zeitpunkt dafür dem unseren entspricht.

Ob gegenwärtig die Aufhebung der Todesstrafe eine volksthümliche For¬
derung sei, darüber wird gestritten. Ja sogar darüber, ob die ethische Em¬
pfindung in dem verhältnißmäßig kleinen Kreise der sogenannten Gebildeten
zur Zeit dringend die Beseitigung einer gesetzlichen Tödtung des Menschen
fordere. Denn die Frage ist verhältnißmäßig neu. nicht Jeder hat der alten
Tradition gegenüber sich eine selbständige Ansicht gebildet. Die Abschaffung
ist in einigen Landschaften Deutschlands länger erörtert und mehr in die Ge¬
danken der Menschen eingedrungen, als in anderen.

Es ist serner richtig, daß auch die Frage noch nicht endgiltig durch die
Erfahrung entschieden ist, ob die Verhängung der Todesstrafe durch ordent¬
liches Gericht eine nützliche, wenn auch sehr bedauernswerthe Nothwehr des
Staates sei. Deshalb befriedigen die Zweckmäßigkeitsgründe, welche dafür
und dagegen vorgebracht werden, zur Zeit noch wenig.

Nur das ist unzweifelhaft, daß die Gegner der Todesstrafe von einer
höheren Auffassung des irdischen Lebens ausgehen, als die Vertheidiger; und
wenn der Bundeskanzler den Gegnern Sentimentalität vorwarf, dürfen sie
ihm mit Grund entgegnen, daß seine eigene niedrigere Schätzung des mensch¬
lichen Lebens auf Erden an einer Inconsequenz leidet. Denn gerade wenn
er dies Leben nur für eine unvollkommene Vorstufe des besseren Jenseits
hält, wie er bekannte, und als einen vorläufigen Aufenthalt, an welchem so
unermeßlich viel nicht gelegen sei, müßte ihn die christliche Auffassung von Reue
und Buße auch dazu sühren, dem Verbrecher hier auf Erden die mögliche
Gelegenheit zu einer Umwandlung seines Innern nicht zu verkürzen, weil ja
von dieser Bekehrung die sociale Lage desselben im Jenseits abhängen würde.

Aber die Rücksicht auf die Unglücklichen und Elenden, welche gewaltthätig
S^en das Gesetz ein Menschenleben vernichtet haben, dünkt uns gar nicht
^nzige humane Rücksicht zu sein, welche der Gesetzgeber hier zu nehmen
hat. Nicht weniger menschlich und politisch wichtiger erscheint, die deutschen
Souveräne von dem furchtbaren Vorrecht der Gnade und Verdammung zu
befreien. Es war bisher das rohe Auskunftsmittel der bedrängten Huma-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/37>, abgerufen am 27.07.2024.