Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.ging die Volkspartei mit ihrer Agitation und ihren extremen Forderungen Unsere Souveräne und die Abschaffung der Todesstrafe. Noch ist, während dies geschrieben wird, das Schicksal nicht entschieden, Seit zwei Jahrhunderten ist in Deutschland das gesammte Civil- und ging die Volkspartei mit ihrer Agitation und ihren extremen Forderungen Unsere Souveräne und die Abschaffung der Todesstrafe. Noch ist, während dies geschrieben wird, das Schicksal nicht entschieden, Seit zwei Jahrhunderten ist in Deutschland das gesammte Civil- und <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0036" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/123656"/> <p xml:id="ID_80" prev="#ID_79"> ging die Volkspartei mit ihrer Agitation und ihren extremen Forderungen<lb/> voraus, die Großdeutschen gedachten die Früchte einzuheimsen, und schließlich<lb/> führte ihr Antrag eben diejenige Wendung herbei, welche sie heute als einen<lb/> Schlag ins Gesicht empfinden. Daß diese Angriffe immer wiederkehren ist<lb/> sicher zu bedauern. Wenn sie aber regelmäßig mit einer empfindlichen Nieder¬<lb/> lage endigen, so ist dies doch ein erfreuliches Zeugniß dafür, daß die Logik<lb/> der deutschen Geschichte stärker ist als der krankhafte Haß der Patrioten.</p><lb/> <note type="byline"/><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Unsere Souveräne und die Abschaffung der Todesstrafe.</head><lb/> <p xml:id="ID_81"> Noch ist, während dies geschrieben wird, das Schicksal nicht entschieden,<lb/> welches dem Entwurf zum neuen Strafgesetz vor dem Reichstag werden wird.<lb/> Denn nicht die Frage der Todesstrafe allein macht die Vereinbarung über das<lb/> große Gesetz unsicher. Unterdeß sei es erlaubt, die Auffassung dieses Blattes<lb/> über den wichtigsten Streitpunkt des Gesetzes darzulegen, da dieser ja keines¬<lb/> wegs aus der Welt geschafft wird, selbst wenn ein Compromiß der gesetz¬<lb/> gebenden Gewalten die letzte Entscheidung in die Zukunft hinausschieben sollte.</p><lb/> <p xml:id="ID_82" next="#ID_83"> Seit zwei Jahrhunderten ist in Deutschland das gesammte Civil- und<lb/> Criminalgesetz mehr als einmal radical umgeformt worden. Wir Deutsche<lb/> sind deshalb an den Gedanken gewöhnt, daß das Recht ebenso in unablässi¬<lb/> ger Fortbildung ist wie Sitte, Sprache, Wissenschaft, Kunst, jede ideale und<lb/> praktische Richtung des Volkslebens; und daß diese Umbildung so lange<lb/> dauern muß, als die schöpferische Lebenskraft der Nation sich regt. Wir sehen<lb/> täglich, daß neue Erfindungen auch neue Bedürfnisse, und daß neue Bedürf¬<lb/> nisse auch neue Beziehungen der Menschen zu einander schaffen, und daß<lb/> jeder sociale Fortschritt seine Befestigung und Weihe durch gesetzliche Be¬<lb/> stimmung begehren muß. Auch ist unsere Nation sich sehr lebendig be¬<lb/> wußt, daß nicht nur zwingende reale Bedürfnisse, sondern ebensosehr die Fort¬<lb/> schritte der sittlichen, religiösen und ethischen Empfindung eine unablässige Fort¬<lb/> bildung in der Gesetzgebung nöthig machen; denn die Toleranz gegen Anders¬<lb/> gläubige, die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Gleichheit der Bürger vor dem<lb/> Gesetz, Schutz der Thiere gegen Mißhandlungen sind zuerst durch die Weisen<lb/> und Guten, durch Reformatoren oder Philosophen der Aufklärungszeit ge¬<lb/> fordert worden, und aus den Lehren der Ethik und aus dem sittlichen Bedürfniß<lb/> der Gebildeten in das Rechtsleben der Nation übergegangen. Auch darüber<lb/> wird in Deutschland wenig Zweifel sein, daß es nicht Aufgabe des Gesetz.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0036]
ging die Volkspartei mit ihrer Agitation und ihren extremen Forderungen
voraus, die Großdeutschen gedachten die Früchte einzuheimsen, und schließlich
führte ihr Antrag eben diejenige Wendung herbei, welche sie heute als einen
Schlag ins Gesicht empfinden. Daß diese Angriffe immer wiederkehren ist
sicher zu bedauern. Wenn sie aber regelmäßig mit einer empfindlichen Nieder¬
lage endigen, so ist dies doch ein erfreuliches Zeugniß dafür, daß die Logik
der deutschen Geschichte stärker ist als der krankhafte Haß der Patrioten.
Unsere Souveräne und die Abschaffung der Todesstrafe.
Noch ist, während dies geschrieben wird, das Schicksal nicht entschieden,
welches dem Entwurf zum neuen Strafgesetz vor dem Reichstag werden wird.
Denn nicht die Frage der Todesstrafe allein macht die Vereinbarung über das
große Gesetz unsicher. Unterdeß sei es erlaubt, die Auffassung dieses Blattes
über den wichtigsten Streitpunkt des Gesetzes darzulegen, da dieser ja keines¬
wegs aus der Welt geschafft wird, selbst wenn ein Compromiß der gesetz¬
gebenden Gewalten die letzte Entscheidung in die Zukunft hinausschieben sollte.
Seit zwei Jahrhunderten ist in Deutschland das gesammte Civil- und
Criminalgesetz mehr als einmal radical umgeformt worden. Wir Deutsche
sind deshalb an den Gedanken gewöhnt, daß das Recht ebenso in unablässi¬
ger Fortbildung ist wie Sitte, Sprache, Wissenschaft, Kunst, jede ideale und
praktische Richtung des Volkslebens; und daß diese Umbildung so lange
dauern muß, als die schöpferische Lebenskraft der Nation sich regt. Wir sehen
täglich, daß neue Erfindungen auch neue Bedürfnisse, und daß neue Bedürf¬
nisse auch neue Beziehungen der Menschen zu einander schaffen, und daß
jeder sociale Fortschritt seine Befestigung und Weihe durch gesetzliche Be¬
stimmung begehren muß. Auch ist unsere Nation sich sehr lebendig be¬
wußt, daß nicht nur zwingende reale Bedürfnisse, sondern ebensosehr die Fort¬
schritte der sittlichen, religiösen und ethischen Empfindung eine unablässige Fort¬
bildung in der Gesetzgebung nöthig machen; denn die Toleranz gegen Anders¬
gläubige, die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Gleichheit der Bürger vor dem
Gesetz, Schutz der Thiere gegen Mißhandlungen sind zuerst durch die Weisen
und Guten, durch Reformatoren oder Philosophen der Aufklärungszeit ge¬
fordert worden, und aus den Lehren der Ethik und aus dem sittlichen Bedürfniß
der Gebildeten in das Rechtsleben der Nation übergegangen. Auch darüber
wird in Deutschland wenig Zweifel sein, daß es nicht Aufgabe des Gesetz.
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