Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

"Lettenkugeln". Diese ursprüngliche Lesart führe ich noch weniger deshalb
an, um den Goethephilologen ihre Herstellung im jetzigen Text zur Pflicht
zu machen, wiewohl ich gestehe, daß für mein Ohr die mundartliche Form
euphonischer ist. Streng diplomatische Kritik ist für die Textreinheit uner¬
läßliche Grundlage, nicht letzte Instanz. Daher könnt' ich es nur billigen.
Wenn die neueste kritische Ausgabe des Neuesten v. Pi. in dem Passus von
der Bühnenkatastrophe Z. 276 anstatt "Und bringt den Alten fast den
Tod" "dem Alten" gesetzt hätte, obgleich gegen alle Druckausgaben und
gegen die Tiefurter Handschrift. Die einzig richtige Sinnbezeichnung geht
doch nur auf den einen Alten zurück, der unmittelbar vorher in Vorstellung
gebracht ist (Z. 271 "Ein Mann, der droben im Reifrock steht, deutet aus
hohe Gravität") und das textlich ursprüngliche den ist provinziellsächsischer
Dativ der Einzahl, nicht der schriftdeutsche der Mehrzahl, für welchen ihn der
Leser nimmt. In den Text ist er wahrscheinlich nur durch den Schreiber
gekommen. Dies gilt auch von dem Fehler in der letzten Zeile: "Und dieser
Lärm dient auf einmal Auf unserm Schauspiel zum Final." Die noth-
wendige Verbesserung "Auch unsrem Schauspiel" hat gegen alle vorausge¬
gangenen Ausgaben erst die von 1840 gemacht. Diese wird nun aber auch
diplomatisch bestätigt durch unsre Tiefurter Handschrift.

Wenden wir uns nun zu den Varianten derselben, die für künftige
Druckausgaben zur Textherstellung gereichen. Z. 261 haben bisher die letz¬
teren alle: "Im Vordergrund sind zwei feine Knaben", die Tiefurter
Handschrift: "Im Vorgrund", was dem Verse besser ansteht. Ebenso gibt
höher oben Z. 136 die vulgata "Wie denn nun fast jede Stadt (Ihren
eignen Mondschein nöthig hat") einen lahmeren, dem munter trollenden
Marktschreier-Vortrag minder gemäßen Vers als in der Tiefurter Handschrift:
"Wie denn nun fast eine jede Stadt".

Erheblicher und nicht ohne Räthselreiz für die Erklärung ist eine Ditto-
graphie am Schluß der ausgezeichneten Versinnbildlichung Wielands. Man
wuß von ihrem Anfang ausholen, um in dem Schwung der Vorstellung die
parodische Schwebe zu empfinden.

V. 189


Ihr kennt den himmlischen Merkur,
Ein Gott ist er zwar von Natur;
Doch sind ihm Stelzen zum irdischen Leben
Als wie ein Pfahl ins Fleisch gegeben;
Darauf macht er durch des Volkes Mitte
Des Jahrs zwölf weite Götterschritte.

Die Stelzen also, die ihn so hoch heben und so weit ausgreifen lassen,
sind doch als eine schlimme Mitgabe seines Götterberufs bezeichnet. Sie
sind auch im Bilde von ungemeiner Höhe; es fällt ihre unverhältntßmäßige


44"

»Lettenkugeln". Diese ursprüngliche Lesart führe ich noch weniger deshalb
an, um den Goethephilologen ihre Herstellung im jetzigen Text zur Pflicht
zu machen, wiewohl ich gestehe, daß für mein Ohr die mundartliche Form
euphonischer ist. Streng diplomatische Kritik ist für die Textreinheit uner¬
läßliche Grundlage, nicht letzte Instanz. Daher könnt' ich es nur billigen.
Wenn die neueste kritische Ausgabe des Neuesten v. Pi. in dem Passus von
der Bühnenkatastrophe Z. 276 anstatt „Und bringt den Alten fast den
Tod" „dem Alten" gesetzt hätte, obgleich gegen alle Druckausgaben und
gegen die Tiefurter Handschrift. Die einzig richtige Sinnbezeichnung geht
doch nur auf den einen Alten zurück, der unmittelbar vorher in Vorstellung
gebracht ist (Z. 271 „Ein Mann, der droben im Reifrock steht, deutet aus
hohe Gravität") und das textlich ursprüngliche den ist provinziellsächsischer
Dativ der Einzahl, nicht der schriftdeutsche der Mehrzahl, für welchen ihn der
Leser nimmt. In den Text ist er wahrscheinlich nur durch den Schreiber
gekommen. Dies gilt auch von dem Fehler in der letzten Zeile: „Und dieser
Lärm dient auf einmal Auf unserm Schauspiel zum Final." Die noth-
wendige Verbesserung „Auch unsrem Schauspiel" hat gegen alle vorausge¬
gangenen Ausgaben erst die von 1840 gemacht. Diese wird nun aber auch
diplomatisch bestätigt durch unsre Tiefurter Handschrift.

Wenden wir uns nun zu den Varianten derselben, die für künftige
Druckausgaben zur Textherstellung gereichen. Z. 261 haben bisher die letz¬
teren alle: „Im Vordergrund sind zwei feine Knaben", die Tiefurter
Handschrift: „Im Vorgrund", was dem Verse besser ansteht. Ebenso gibt
höher oben Z. 136 die vulgata „Wie denn nun fast jede Stadt (Ihren
eignen Mondschein nöthig hat") einen lahmeren, dem munter trollenden
Marktschreier-Vortrag minder gemäßen Vers als in der Tiefurter Handschrift:
»Wie denn nun fast eine jede Stadt".

Erheblicher und nicht ohne Räthselreiz für die Erklärung ist eine Ditto-
graphie am Schluß der ausgezeichneten Versinnbildlichung Wielands. Man
wuß von ihrem Anfang ausholen, um in dem Schwung der Vorstellung die
parodische Schwebe zu empfinden.

V. 189


Ihr kennt den himmlischen Merkur,
Ein Gott ist er zwar von Natur;
Doch sind ihm Stelzen zum irdischen Leben
Als wie ein Pfahl ins Fleisch gegeben;
Darauf macht er durch des Volkes Mitte
Des Jahrs zwölf weite Götterschritte.

Die Stelzen also, die ihn so hoch heben und so weit ausgreifen lassen,
sind doch als eine schlimme Mitgabe seines Götterberufs bezeichnet. Sie
sind auch im Bilde von ungemeiner Höhe; es fällt ihre unverhältntßmäßige


44"
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0353" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/123973"/>
          <p xml:id="ID_1048" prev="#ID_1047"> »Lettenkugeln". Diese ursprüngliche Lesart führe ich noch weniger deshalb<lb/>
an, um den Goethephilologen ihre Herstellung im jetzigen Text zur Pflicht<lb/>
zu machen, wiewohl ich gestehe, daß für mein Ohr die mundartliche Form<lb/>
euphonischer ist. Streng diplomatische Kritik ist für die Textreinheit uner¬<lb/>
läßliche Grundlage, nicht letzte Instanz. Daher könnt' ich es nur billigen.<lb/>
Wenn die neueste kritische Ausgabe des Neuesten v. Pi. in dem Passus von<lb/>
der Bühnenkatastrophe Z. 276 anstatt &#x201E;Und bringt den Alten fast den<lb/>
Tod" &#x201E;dem Alten" gesetzt hätte, obgleich gegen alle Druckausgaben und<lb/>
gegen die Tiefurter Handschrift. Die einzig richtige Sinnbezeichnung geht<lb/>
doch nur auf den einen Alten zurück, der unmittelbar vorher in Vorstellung<lb/>
gebracht ist (Z. 271 &#x201E;Ein Mann, der droben im Reifrock steht, deutet aus<lb/>
hohe Gravität") und das textlich ursprüngliche den ist provinziellsächsischer<lb/>
Dativ der Einzahl, nicht der schriftdeutsche der Mehrzahl, für welchen ihn der<lb/>
Leser nimmt. In den Text ist er wahrscheinlich nur durch den Schreiber<lb/>
gekommen. Dies gilt auch von dem Fehler in der letzten Zeile: &#x201E;Und dieser<lb/>
Lärm dient auf einmal Auf unserm Schauspiel zum Final." Die noth-<lb/>
wendige Verbesserung &#x201E;Auch unsrem Schauspiel" hat gegen alle vorausge¬<lb/>
gangenen Ausgaben erst die von 1840 gemacht. Diese wird nun aber auch<lb/>
diplomatisch bestätigt durch unsre Tiefurter Handschrift.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1049"> Wenden wir uns nun zu den Varianten derselben, die für künftige<lb/>
Druckausgaben zur Textherstellung gereichen. Z. 261 haben bisher die letz¬<lb/>
teren alle: &#x201E;Im Vordergrund sind zwei feine Knaben", die Tiefurter<lb/>
Handschrift: &#x201E;Im Vorgrund", was dem Verse besser ansteht. Ebenso gibt<lb/>
höher oben Z. 136 die vulgata &#x201E;Wie denn nun fast jede Stadt (Ihren<lb/>
eignen Mondschein nöthig hat") einen lahmeren, dem munter trollenden<lb/>
Marktschreier-Vortrag minder gemäßen Vers als in der Tiefurter Handschrift:<lb/>
»Wie denn nun fast eine jede Stadt".</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1050"> Erheblicher und nicht ohne Räthselreiz für die Erklärung ist eine Ditto-<lb/>
graphie am Schluß der ausgezeichneten Versinnbildlichung Wielands. Man<lb/>
wuß von ihrem Anfang ausholen, um in dem Schwung der Vorstellung die<lb/>
parodische Schwebe zu empfinden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1051"> V. 189 </p><lb/>
          <quote> Ihr kennt den himmlischen Merkur,<lb/>
Ein Gott ist er zwar von Natur;<lb/>
Doch sind ihm Stelzen zum irdischen Leben<lb/>
Als wie ein Pfahl ins Fleisch gegeben;<lb/>
Darauf macht er durch des Volkes Mitte<lb/>
Des Jahrs zwölf weite Götterschritte.</quote><lb/>
          <p xml:id="ID_1052" next="#ID_1053"> Die Stelzen also, die ihn so hoch heben und so weit ausgreifen lassen,<lb/>
sind doch als eine schlimme Mitgabe seines Götterberufs bezeichnet. Sie<lb/>
sind auch im Bilde von ungemeiner Höhe; es fällt ihre unverhältntßmäßige</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 44"</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0353] »Lettenkugeln". Diese ursprüngliche Lesart führe ich noch weniger deshalb an, um den Goethephilologen ihre Herstellung im jetzigen Text zur Pflicht zu machen, wiewohl ich gestehe, daß für mein Ohr die mundartliche Form euphonischer ist. Streng diplomatische Kritik ist für die Textreinheit uner¬ läßliche Grundlage, nicht letzte Instanz. Daher könnt' ich es nur billigen. Wenn die neueste kritische Ausgabe des Neuesten v. Pi. in dem Passus von der Bühnenkatastrophe Z. 276 anstatt „Und bringt den Alten fast den Tod" „dem Alten" gesetzt hätte, obgleich gegen alle Druckausgaben und gegen die Tiefurter Handschrift. Die einzig richtige Sinnbezeichnung geht doch nur auf den einen Alten zurück, der unmittelbar vorher in Vorstellung gebracht ist (Z. 271 „Ein Mann, der droben im Reifrock steht, deutet aus hohe Gravität") und das textlich ursprüngliche den ist provinziellsächsischer Dativ der Einzahl, nicht der schriftdeutsche der Mehrzahl, für welchen ihn der Leser nimmt. In den Text ist er wahrscheinlich nur durch den Schreiber gekommen. Dies gilt auch von dem Fehler in der letzten Zeile: „Und dieser Lärm dient auf einmal Auf unserm Schauspiel zum Final." Die noth- wendige Verbesserung „Auch unsrem Schauspiel" hat gegen alle vorausge¬ gangenen Ausgaben erst die von 1840 gemacht. Diese wird nun aber auch diplomatisch bestätigt durch unsre Tiefurter Handschrift. Wenden wir uns nun zu den Varianten derselben, die für künftige Druckausgaben zur Textherstellung gereichen. Z. 261 haben bisher die letz¬ teren alle: „Im Vordergrund sind zwei feine Knaben", die Tiefurter Handschrift: „Im Vorgrund", was dem Verse besser ansteht. Ebenso gibt höher oben Z. 136 die vulgata „Wie denn nun fast jede Stadt (Ihren eignen Mondschein nöthig hat") einen lahmeren, dem munter trollenden Marktschreier-Vortrag minder gemäßen Vers als in der Tiefurter Handschrift: »Wie denn nun fast eine jede Stadt". Erheblicher und nicht ohne Räthselreiz für die Erklärung ist eine Ditto- graphie am Schluß der ausgezeichneten Versinnbildlichung Wielands. Man wuß von ihrem Anfang ausholen, um in dem Schwung der Vorstellung die parodische Schwebe zu empfinden. V. 189 Ihr kennt den himmlischen Merkur, Ein Gott ist er zwar von Natur; Doch sind ihm Stelzen zum irdischen Leben Als wie ein Pfahl ins Fleisch gegeben; Darauf macht er durch des Volkes Mitte Des Jahrs zwölf weite Götterschritte. Die Stelzen also, die ihn so hoch heben und so weit ausgreifen lassen, sind doch als eine schlimme Mitgabe seines Götterberufs bezeichnet. Sie sind auch im Bilde von ungemeiner Höhe; es fällt ihre unverhältntßmäßige 44"

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/353
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/353>, abgerufen am 01.09.2024.