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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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Zur letzten Woche des Reichstags.

Zu derselben Stunde, in welcher König Wilhelm in seiner treuen Haupt¬
stadt dem scheidenden Kaiser von Rußland das Geleit nach dem Bahn-
Hofe gab, bewegte sich durch die Straßen der Stadt ein Leichenzug, wie ihn
Berlin seit vielen Jahren nicht gesehen. Der Greis, welcher mit den höchsten
Bürgerehren bestattet wurde, war durch 20 Jahre der verehrteste Führer der
Demokratie gewesen, zwei Könige von Preußen hatten ihn wie einen persön¬
lichen Gegner mit Abneigung betrachtet, und er hatte doch ihrem Staat
seine Arbeit, seine Sorge, Leben und Liebe in ungewöhnlicher Weise gewidmet.
Wahrlich seine Gestalt und seine politische Thätigkeit sind vorzugsweise
charakteristisch sür die ersten Jahrzehnte des preußischen Verfassungslebens.
Wenige haben so tief die Erbärmlichkeiten einer hilflosen Regierung und die
Bitterkeit des ausbrechenden Kampfes in einer schwächlichen Zeit durchge¬
kostet, und Wenigen, die das Jahr 48 im gereiften Mannesalter erlebten,
ist eine so lange, angestrengte und consequente Thätigkeit im öffentlichen
Leben zu Theil geworden, als ihm. Gleich im Anfange seiner politischen
Thätigkeit wurde er durch den höchst persönlichen Haß der Hofpartei, welcher
nicht selten mit kleiner Tücke hervorbrach, zum Märtyrer gemacht, die
natürliche Wirkung ungerechter Verfolgungen war die, daß er zu dem
populärsten Manne der Opposition wurde, und daß das gekränkte
Rechtsgefühl des Volkes in ihm den großen Vorkämpfer gegen die Un¬
gesetzlichkeit, die Schwäche und die tyrannischen Gelüste einer unpopu¬
lären Regierung sah. Er selbst war seiner Bildung noch mehr Richter als
Politiker, er war kein besonders fernsichtiger Mann und bedürfte Lehrsatz
und Doctrin, um sich unter den werdenden Dingen sicher zu fühlen, er besaß
viel von der festen Zähigkeit seiner westphälischen Landsleute und dies Be¬
harren gab sich bei dem alternden Herrn zuweilen als Hartnäckigkeit und
Eigensinn auch gegen Parteigenossen kund. Aber er war ein ehrlicher, fester,
unsträflicher Mann, ein fester Mann in schlimmer Zeit, wo die Charaktere rings
um ihn wie Rohrhalme zerbrachen. Er hatte viel durch die Ungerechtigkeit


Grenzboten II. 1870. 41
Zur letzten Woche des Reichstags.

Zu derselben Stunde, in welcher König Wilhelm in seiner treuen Haupt¬
stadt dem scheidenden Kaiser von Rußland das Geleit nach dem Bahn-
Hofe gab, bewegte sich durch die Straßen der Stadt ein Leichenzug, wie ihn
Berlin seit vielen Jahren nicht gesehen. Der Greis, welcher mit den höchsten
Bürgerehren bestattet wurde, war durch 20 Jahre der verehrteste Führer der
Demokratie gewesen, zwei Könige von Preußen hatten ihn wie einen persön¬
lichen Gegner mit Abneigung betrachtet, und er hatte doch ihrem Staat
seine Arbeit, seine Sorge, Leben und Liebe in ungewöhnlicher Weise gewidmet.
Wahrlich seine Gestalt und seine politische Thätigkeit sind vorzugsweise
charakteristisch sür die ersten Jahrzehnte des preußischen Verfassungslebens.
Wenige haben so tief die Erbärmlichkeiten einer hilflosen Regierung und die
Bitterkeit des ausbrechenden Kampfes in einer schwächlichen Zeit durchge¬
kostet, und Wenigen, die das Jahr 48 im gereiften Mannesalter erlebten,
ist eine so lange, angestrengte und consequente Thätigkeit im öffentlichen
Leben zu Theil geworden, als ihm. Gleich im Anfange seiner politischen
Thätigkeit wurde er durch den höchst persönlichen Haß der Hofpartei, welcher
nicht selten mit kleiner Tücke hervorbrach, zum Märtyrer gemacht, die
natürliche Wirkung ungerechter Verfolgungen war die, daß er zu dem
populärsten Manne der Opposition wurde, und daß das gekränkte
Rechtsgefühl des Volkes in ihm den großen Vorkämpfer gegen die Un¬
gesetzlichkeit, die Schwäche und die tyrannischen Gelüste einer unpopu¬
lären Regierung sah. Er selbst war seiner Bildung noch mehr Richter als
Politiker, er war kein besonders fernsichtiger Mann und bedürfte Lehrsatz
und Doctrin, um sich unter den werdenden Dingen sicher zu fühlen, er besaß
viel von der festen Zähigkeit seiner westphälischen Landsleute und dies Be¬
harren gab sich bei dem alternden Herrn zuweilen als Hartnäckigkeit und
Eigensinn auch gegen Parteigenossen kund. Aber er war ein ehrlicher, fester,
unsträflicher Mann, ein fester Mann in schlimmer Zeit, wo die Charaktere rings
um ihn wie Rohrhalme zerbrachen. Er hatte viel durch die Ungerechtigkeit


Grenzboten II. 1870. 41
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[0327] Zur letzten Woche des Reichstags. Zu derselben Stunde, in welcher König Wilhelm in seiner treuen Haupt¬ stadt dem scheidenden Kaiser von Rußland das Geleit nach dem Bahn- Hofe gab, bewegte sich durch die Straßen der Stadt ein Leichenzug, wie ihn Berlin seit vielen Jahren nicht gesehen. Der Greis, welcher mit den höchsten Bürgerehren bestattet wurde, war durch 20 Jahre der verehrteste Führer der Demokratie gewesen, zwei Könige von Preußen hatten ihn wie einen persön¬ lichen Gegner mit Abneigung betrachtet, und er hatte doch ihrem Staat seine Arbeit, seine Sorge, Leben und Liebe in ungewöhnlicher Weise gewidmet. Wahrlich seine Gestalt und seine politische Thätigkeit sind vorzugsweise charakteristisch sür die ersten Jahrzehnte des preußischen Verfassungslebens. Wenige haben so tief die Erbärmlichkeiten einer hilflosen Regierung und die Bitterkeit des ausbrechenden Kampfes in einer schwächlichen Zeit durchge¬ kostet, und Wenigen, die das Jahr 48 im gereiften Mannesalter erlebten, ist eine so lange, angestrengte und consequente Thätigkeit im öffentlichen Leben zu Theil geworden, als ihm. Gleich im Anfange seiner politischen Thätigkeit wurde er durch den höchst persönlichen Haß der Hofpartei, welcher nicht selten mit kleiner Tücke hervorbrach, zum Märtyrer gemacht, die natürliche Wirkung ungerechter Verfolgungen war die, daß er zu dem populärsten Manne der Opposition wurde, und daß das gekränkte Rechtsgefühl des Volkes in ihm den großen Vorkämpfer gegen die Un¬ gesetzlichkeit, die Schwäche und die tyrannischen Gelüste einer unpopu¬ lären Regierung sah. Er selbst war seiner Bildung noch mehr Richter als Politiker, er war kein besonders fernsichtiger Mann und bedürfte Lehrsatz und Doctrin, um sich unter den werdenden Dingen sicher zu fühlen, er besaß viel von der festen Zähigkeit seiner westphälischen Landsleute und dies Be¬ harren gab sich bei dem alternden Herrn zuweilen als Hartnäckigkeit und Eigensinn auch gegen Parteigenossen kund. Aber er war ein ehrlicher, fester, unsträflicher Mann, ein fester Mann in schlimmer Zeit, wo die Charaktere rings um ihn wie Rohrhalme zerbrachen. Er hatte viel durch die Ungerechtigkeit Grenzboten II. 1870. 41

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/327>, abgerufen am 27.07.2024.