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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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In Deutschland sind noch viele falsche Ansichten über Alter und Werth
der Wappenzeichen für die Familiengeschichte verbreitet, ja das gesammte
Ritterwesen des Mittelalters wird noch gröblich mißverstanden. Im 13. Jahr-
hundert stehen die Wappenzeichen sogar bei den meisten Dynastengeschlechten
durchaus nicht fest, die adligen Schildträger ändern nach Laune und um
sich persönlich zu unterscheiden an den Farben, den Zeichen und noch länger
am Helmschmuck. Vollends bei ihren Lehnsleuten und Dienstmannen, aus
denen sich im 14. und Is. Jahrhundert der größte Theil des niederen Adels
entwickelt, sind die Wappen bis etwa um 1350 fast zufällig. Die Dienst-
mannen behielten noch im 14. Jahrhundert nicht nur häufig den Namen, auch
Schildzeichen ihrer adligen Herren für sich als dauernde Familienzeichen,
und ihre Nachkommen hielten vielleicht daran fest, auch wenn sie von den
Burgen des Landes unter die Bürger der Stadt gezogen waren. Dauerte
ihnen in dem neuen Verhältniß die Freude am Reiterhandwerk, die Ver¬
bindung mit dem Adel oder mit rittermäßigen Familien der Umgegend, so
blieb ihren Nachkommen häufig auch das Begehren nach dem Ritterschild
und die Ansprüche auf rittermäßige Geburt. So vorzugsweise in den Reichs¬
städten des westlichen und mittleren Deutschlands. In Schlesien scheint der
Bürger von 1240--1440 nur sehr selten den Ritterschild der Vorfahren bewahrt
und begehrt zu haben. Das ritterliche Wesen gedieh in dem Grenzlande
wenig, nur etwa die Hofleute der kleinen Herzöge und die Landfamilien,
welche zum Roßdienst verpflichtet waren, bewahrten nothdürftig ihren Zu¬
sammenhang mit den rittermäßigen Bräuchen der westlichen Landschaften.
Erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts verbreitete sich der Stolz auf
Wappen und Ahnen vom Westen her. manche Familien, welche mit ritter¬
mäßigen Rechten in den Häusern des Landes saßen, suchten Aufnahme in
den fränkischen, schwäbischen, rheinischen Rittergesellschaften und erst von
dieser Zeit werden in den Familien der altheimischen Lehnsbesitzer festgestellte
Wappen und Ahnen mit Sicherheit zu erweisen sein.

Es liegt nahe bei Schlesiens Geschichte an die neue Entdeckung zu er¬
innern, welche in den letzten Wochen zu Liegnitz gemacht wurde. Wie es
scheint, sind gute Fundjahre für die Alterthumskunde gekommen; die
Nachricht, daß zu Liegnitz eine Handschrift des Livius aufgefunden wor¬
den sei, welche die vierte Decade (Buch 31--40) fast vollständig enthält,
verursacht unter den Philologen eine kleine anmuthige Aufregung. Wenn
die Mittheilung über den Inhalt genau ist, so umfaßt der Fund einen
Theil des ^.Textes, welcher uns auch in anderen Handschriften erhalten
ist. Wir besitzen von den 142 Büchern der römischen Geschichte des Livius
bekanntlich nur B. 1--10. dann 21--48. die letzten fünf sehr lückenhaft,


In Deutschland sind noch viele falsche Ansichten über Alter und Werth
der Wappenzeichen für die Familiengeschichte verbreitet, ja das gesammte
Ritterwesen des Mittelalters wird noch gröblich mißverstanden. Im 13. Jahr-
hundert stehen die Wappenzeichen sogar bei den meisten Dynastengeschlechten
durchaus nicht fest, die adligen Schildträger ändern nach Laune und um
sich persönlich zu unterscheiden an den Farben, den Zeichen und noch länger
am Helmschmuck. Vollends bei ihren Lehnsleuten und Dienstmannen, aus
denen sich im 14. und Is. Jahrhundert der größte Theil des niederen Adels
entwickelt, sind die Wappen bis etwa um 1350 fast zufällig. Die Dienst-
mannen behielten noch im 14. Jahrhundert nicht nur häufig den Namen, auch
Schildzeichen ihrer adligen Herren für sich als dauernde Familienzeichen,
und ihre Nachkommen hielten vielleicht daran fest, auch wenn sie von den
Burgen des Landes unter die Bürger der Stadt gezogen waren. Dauerte
ihnen in dem neuen Verhältniß die Freude am Reiterhandwerk, die Ver¬
bindung mit dem Adel oder mit rittermäßigen Familien der Umgegend, so
blieb ihren Nachkommen häufig auch das Begehren nach dem Ritterschild
und die Ansprüche auf rittermäßige Geburt. So vorzugsweise in den Reichs¬
städten des westlichen und mittleren Deutschlands. In Schlesien scheint der
Bürger von 1240—1440 nur sehr selten den Ritterschild der Vorfahren bewahrt
und begehrt zu haben. Das ritterliche Wesen gedieh in dem Grenzlande
wenig, nur etwa die Hofleute der kleinen Herzöge und die Landfamilien,
welche zum Roßdienst verpflichtet waren, bewahrten nothdürftig ihren Zu¬
sammenhang mit den rittermäßigen Bräuchen der westlichen Landschaften.
Erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts verbreitete sich der Stolz auf
Wappen und Ahnen vom Westen her. manche Familien, welche mit ritter¬
mäßigen Rechten in den Häusern des Landes saßen, suchten Aufnahme in
den fränkischen, schwäbischen, rheinischen Rittergesellschaften und erst von
dieser Zeit werden in den Familien der altheimischen Lehnsbesitzer festgestellte
Wappen und Ahnen mit Sicherheit zu erweisen sein.

Es liegt nahe bei Schlesiens Geschichte an die neue Entdeckung zu er¬
innern, welche in den letzten Wochen zu Liegnitz gemacht wurde. Wie es
scheint, sind gute Fundjahre für die Alterthumskunde gekommen; die
Nachricht, daß zu Liegnitz eine Handschrift des Livius aufgefunden wor¬
den sei, welche die vierte Decade (Buch 31—40) fast vollständig enthält,
verursacht unter den Philologen eine kleine anmuthige Aufregung. Wenn
die Mittheilung über den Inhalt genau ist, so umfaßt der Fund einen
Theil des ^.Textes, welcher uns auch in anderen Handschriften erhalten
ist. Wir besitzen von den 142 Büchern der römischen Geschichte des Livius
bekanntlich nur B. 1—10. dann 21—48. die letzten fünf sehr lückenhaft,


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[0323] In Deutschland sind noch viele falsche Ansichten über Alter und Werth der Wappenzeichen für die Familiengeschichte verbreitet, ja das gesammte Ritterwesen des Mittelalters wird noch gröblich mißverstanden. Im 13. Jahr- hundert stehen die Wappenzeichen sogar bei den meisten Dynastengeschlechten durchaus nicht fest, die adligen Schildträger ändern nach Laune und um sich persönlich zu unterscheiden an den Farben, den Zeichen und noch länger am Helmschmuck. Vollends bei ihren Lehnsleuten und Dienstmannen, aus denen sich im 14. und Is. Jahrhundert der größte Theil des niederen Adels entwickelt, sind die Wappen bis etwa um 1350 fast zufällig. Die Dienst- mannen behielten noch im 14. Jahrhundert nicht nur häufig den Namen, auch Schildzeichen ihrer adligen Herren für sich als dauernde Familienzeichen, und ihre Nachkommen hielten vielleicht daran fest, auch wenn sie von den Burgen des Landes unter die Bürger der Stadt gezogen waren. Dauerte ihnen in dem neuen Verhältniß die Freude am Reiterhandwerk, die Ver¬ bindung mit dem Adel oder mit rittermäßigen Familien der Umgegend, so blieb ihren Nachkommen häufig auch das Begehren nach dem Ritterschild und die Ansprüche auf rittermäßige Geburt. So vorzugsweise in den Reichs¬ städten des westlichen und mittleren Deutschlands. In Schlesien scheint der Bürger von 1240—1440 nur sehr selten den Ritterschild der Vorfahren bewahrt und begehrt zu haben. Das ritterliche Wesen gedieh in dem Grenzlande wenig, nur etwa die Hofleute der kleinen Herzöge und die Landfamilien, welche zum Roßdienst verpflichtet waren, bewahrten nothdürftig ihren Zu¬ sammenhang mit den rittermäßigen Bräuchen der westlichen Landschaften. Erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts verbreitete sich der Stolz auf Wappen und Ahnen vom Westen her. manche Familien, welche mit ritter¬ mäßigen Rechten in den Häusern des Landes saßen, suchten Aufnahme in den fränkischen, schwäbischen, rheinischen Rittergesellschaften und erst von dieser Zeit werden in den Familien der altheimischen Lehnsbesitzer festgestellte Wappen und Ahnen mit Sicherheit zu erweisen sein. Es liegt nahe bei Schlesiens Geschichte an die neue Entdeckung zu er¬ innern, welche in den letzten Wochen zu Liegnitz gemacht wurde. Wie es scheint, sind gute Fundjahre für die Alterthumskunde gekommen; die Nachricht, daß zu Liegnitz eine Handschrift des Livius aufgefunden wor¬ den sei, welche die vierte Decade (Buch 31—40) fast vollständig enthält, verursacht unter den Philologen eine kleine anmuthige Aufregung. Wenn die Mittheilung über den Inhalt genau ist, so umfaßt der Fund einen Theil des ^.Textes, welcher uns auch in anderen Handschriften erhalten ist. Wir besitzen von den 142 Büchern der römischen Geschichte des Livius bekanntlich nur B. 1—10. dann 21—48. die letzten fünf sehr lückenhaft,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/323>, abgerufen am 01.09.2024.