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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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und Gewissenhaftigkeit, als eine Frage der öffentlichen Sittlichkeit. Sie ver¬
langen daher jetzt zunächst in der Presse, daß gegen die neue Liturgie einge¬
schritten werde und meinen es würde der Regierung, deren Partei zur Zeit
als Träger der öffentlichen Meinung gelten kann und die bei den jüngsten
Großrathswahlen ausdrücklich erklärt hatte, daß sie die "mannigfaltigen Unter¬
schiede sowohl politischer als kirchlicher Anschauungen und Stiftungen" be¬
rücksichtigt wissen wolle, wohl anstehen in dieser Angelegenheit die Initiative
zu ergreifen.

Jene Einführung der neuen Agende durch den Kirchenrath ohne Be¬
grüßung weder der weltlichen Behörde noch der Gemeindemitglieder war nur
möglich durch die ganz eigenthümliche Kirchenverfassung, deren sich Basel bis
in die neueste Zeit zu erfreuen hatte. Bis 1863 konnte der Kirchenrath
seine Existenz auf kein bekanntes Gesetz stützen, sondern soll sich auf dem Wege
der Tradition aus der Reformationszeit vererbt haben. Die Behörde bestand
aus den vier Pfarrern, den vier ordentlichen Professoren der Theologie und
vier vom Kleinen Rathe gewählten Laien, somit aus vier wählbaren und
acht lebenslänglichen Mitgliedern. 186Z wurde aus politischen Gründen be¬
schlossen, auch den Kirchenrath unter die sogenannten Verwaltungsbehörden
einzuordnen und ihm dadurch eine gesetzliche Grundlage und zugleich eine
etwas weniger mittelalterliche Organisation zugeben. Nach dieser letzteren
wird derselbe nun vom Kleinen Rathe, d. i. von der Executive gewählt und
besteht aus dem Antistes als Präsidenten, drei anderen Pfarrern, zwei Pro¬
fessoren der Theologie und fünf Laien, worunter zwei Mitglieder des Kleinen
Rathes. Es beruht sonach Basel's Kirchenverfassung in den zwei Sätzen:
der Kleine Rath wählt den Kirchenrath und der Kirchenrath leitet die inne¬
ren Angelegenheiten der Kirche. Der Kirchenrath ist aber den übrigen
Rathscollegien nicht völlig gleichgestellt. Es fehlt in dem neuen Gesetze jede
Bestimmung, nach welcher er gleich den anderen Collegien dem Kleinen
Rathe untergeordnet wäre; auch hat er allein einen selbständigen Präsidenten
im Antistes. während sämmtliche andere Collegien ein Mitglied des Kleinen
Rathes zum Vorsitzenden haben müssen. Während also anderwärts, wo man
nicht absolute Trennung von Staat und Kirche, sondern Fortentwickelung
der mit dem Sraate in Verbindung bleibenden Landeskirche will, das Streben
überall dahin geht, die Unterordnung der Kirchengewalt unter den Staat zu
gewährleisten und keinen Staat im Staate zu dulden, wurde in Basel der
Kirchenbehörde eine Ausnahmsstellung und wie die Liberalen klagen, eine
Art von Souveränetät zugestanden, welche um so bedeutsamer erscheint, als
es hier keine Synode, weder eine geistliche noch eine gemischte gibt. Der
Kirchenrath kann souverän über Glaubenssachen entscheiden, ohne weder die
Gemeinde noch die staatlichen Behörden darüber zu fragen. Der Kirchen-


und Gewissenhaftigkeit, als eine Frage der öffentlichen Sittlichkeit. Sie ver¬
langen daher jetzt zunächst in der Presse, daß gegen die neue Liturgie einge¬
schritten werde und meinen es würde der Regierung, deren Partei zur Zeit
als Träger der öffentlichen Meinung gelten kann und die bei den jüngsten
Großrathswahlen ausdrücklich erklärt hatte, daß sie die „mannigfaltigen Unter¬
schiede sowohl politischer als kirchlicher Anschauungen und Stiftungen" be¬
rücksichtigt wissen wolle, wohl anstehen in dieser Angelegenheit die Initiative
zu ergreifen.

Jene Einführung der neuen Agende durch den Kirchenrath ohne Be¬
grüßung weder der weltlichen Behörde noch der Gemeindemitglieder war nur
möglich durch die ganz eigenthümliche Kirchenverfassung, deren sich Basel bis
in die neueste Zeit zu erfreuen hatte. Bis 1863 konnte der Kirchenrath
seine Existenz auf kein bekanntes Gesetz stützen, sondern soll sich auf dem Wege
der Tradition aus der Reformationszeit vererbt haben. Die Behörde bestand
aus den vier Pfarrern, den vier ordentlichen Professoren der Theologie und
vier vom Kleinen Rathe gewählten Laien, somit aus vier wählbaren und
acht lebenslänglichen Mitgliedern. 186Z wurde aus politischen Gründen be¬
schlossen, auch den Kirchenrath unter die sogenannten Verwaltungsbehörden
einzuordnen und ihm dadurch eine gesetzliche Grundlage und zugleich eine
etwas weniger mittelalterliche Organisation zugeben. Nach dieser letzteren
wird derselbe nun vom Kleinen Rathe, d. i. von der Executive gewählt und
besteht aus dem Antistes als Präsidenten, drei anderen Pfarrern, zwei Pro¬
fessoren der Theologie und fünf Laien, worunter zwei Mitglieder des Kleinen
Rathes. Es beruht sonach Basel's Kirchenverfassung in den zwei Sätzen:
der Kleine Rath wählt den Kirchenrath und der Kirchenrath leitet die inne¬
ren Angelegenheiten der Kirche. Der Kirchenrath ist aber den übrigen
Rathscollegien nicht völlig gleichgestellt. Es fehlt in dem neuen Gesetze jede
Bestimmung, nach welcher er gleich den anderen Collegien dem Kleinen
Rathe untergeordnet wäre; auch hat er allein einen selbständigen Präsidenten
im Antistes. während sämmtliche andere Collegien ein Mitglied des Kleinen
Rathes zum Vorsitzenden haben müssen. Während also anderwärts, wo man
nicht absolute Trennung von Staat und Kirche, sondern Fortentwickelung
der mit dem Sraate in Verbindung bleibenden Landeskirche will, das Streben
überall dahin geht, die Unterordnung der Kirchengewalt unter den Staat zu
gewährleisten und keinen Staat im Staate zu dulden, wurde in Basel der
Kirchenbehörde eine Ausnahmsstellung und wie die Liberalen klagen, eine
Art von Souveränetät zugestanden, welche um so bedeutsamer erscheint, als
es hier keine Synode, weder eine geistliche noch eine gemischte gibt. Der
Kirchenrath kann souverän über Glaubenssachen entscheiden, ohne weder die
Gemeinde noch die staatlichen Behörden darüber zu fragen. Der Kirchen-


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[0314] und Gewissenhaftigkeit, als eine Frage der öffentlichen Sittlichkeit. Sie ver¬ langen daher jetzt zunächst in der Presse, daß gegen die neue Liturgie einge¬ schritten werde und meinen es würde der Regierung, deren Partei zur Zeit als Träger der öffentlichen Meinung gelten kann und die bei den jüngsten Großrathswahlen ausdrücklich erklärt hatte, daß sie die „mannigfaltigen Unter¬ schiede sowohl politischer als kirchlicher Anschauungen und Stiftungen" be¬ rücksichtigt wissen wolle, wohl anstehen in dieser Angelegenheit die Initiative zu ergreifen. Jene Einführung der neuen Agende durch den Kirchenrath ohne Be¬ grüßung weder der weltlichen Behörde noch der Gemeindemitglieder war nur möglich durch die ganz eigenthümliche Kirchenverfassung, deren sich Basel bis in die neueste Zeit zu erfreuen hatte. Bis 1863 konnte der Kirchenrath seine Existenz auf kein bekanntes Gesetz stützen, sondern soll sich auf dem Wege der Tradition aus der Reformationszeit vererbt haben. Die Behörde bestand aus den vier Pfarrern, den vier ordentlichen Professoren der Theologie und vier vom Kleinen Rathe gewählten Laien, somit aus vier wählbaren und acht lebenslänglichen Mitgliedern. 186Z wurde aus politischen Gründen be¬ schlossen, auch den Kirchenrath unter die sogenannten Verwaltungsbehörden einzuordnen und ihm dadurch eine gesetzliche Grundlage und zugleich eine etwas weniger mittelalterliche Organisation zugeben. Nach dieser letzteren wird derselbe nun vom Kleinen Rathe, d. i. von der Executive gewählt und besteht aus dem Antistes als Präsidenten, drei anderen Pfarrern, zwei Pro¬ fessoren der Theologie und fünf Laien, worunter zwei Mitglieder des Kleinen Rathes. Es beruht sonach Basel's Kirchenverfassung in den zwei Sätzen: der Kleine Rath wählt den Kirchenrath und der Kirchenrath leitet die inne¬ ren Angelegenheiten der Kirche. Der Kirchenrath ist aber den übrigen Rathscollegien nicht völlig gleichgestellt. Es fehlt in dem neuen Gesetze jede Bestimmung, nach welcher er gleich den anderen Collegien dem Kleinen Rathe untergeordnet wäre; auch hat er allein einen selbständigen Präsidenten im Antistes. während sämmtliche andere Collegien ein Mitglied des Kleinen Rathes zum Vorsitzenden haben müssen. Während also anderwärts, wo man nicht absolute Trennung von Staat und Kirche, sondern Fortentwickelung der mit dem Sraate in Verbindung bleibenden Landeskirche will, das Streben überall dahin geht, die Unterordnung der Kirchengewalt unter den Staat zu gewährleisten und keinen Staat im Staate zu dulden, wurde in Basel der Kirchenbehörde eine Ausnahmsstellung und wie die Liberalen klagen, eine Art von Souveränetät zugestanden, welche um so bedeutsamer erscheint, als es hier keine Synode, weder eine geistliche noch eine gemischte gibt. Der Kirchenrath kann souverän über Glaubenssachen entscheiden, ohne weder die Gemeinde noch die staatlichen Behörden darüber zu fragen. Der Kirchen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/314>, abgerufen am 01.09.2024.