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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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diesen, daß sie dem am 23. Mai zusammentretender Großen Rathe zur wei-
teren "Bereisung" unterbreitet werden können. Außerdem gewährleistet die
Cantonsverfassung ein kirchliches Referendum, indem sie die Bestimmung ent¬
hält: "Kirchliche Erlasse und Verordnungen gesetzgeberischer Natur unter¬
liegen der eonfesstonellen Volksabstimmung." In der Waadt wurde gegen
Ende des vorigen Jahres der Antrag auf Revision des Kirchengesetzes vom
Großen Rathe als zeitgemäß erklärt. Es handelt sich hier hauptsächlich um
Einführung der direkten Wahl der Geistlichen durch die Gemeinden, um Auf¬
hebung des Institutes der Kreisräthe und um die Wahl der Synodaldepu-
tirten durch die Kirchgemeinderäthe.

Eine eigenthümliche Stellung zu den kirchlichen Reformbestrebungen
nimmt Basel ein. Während sonst fast überall in der Schweiz diese Fragen
im Lichte der Oeffentlichkeit und unter Betheiligung ebensowohl der politi¬
schen als der kirchlichen Behörden, sowohl der Laienwelt als der Geistlich¬
keit verhandelt und entschieden werden, wurde um letzte Weihnacht von
der baslerischen Kirchenbehörde eine neue Liturgie eingeführt, ohne daß
dieser Gegenstand der Regierung oder sonst einer staatlichen Behörde zur
Kenntnißnahme und Genehmigung vorgelegt worden war oder das Publicum
von diesem Vorhaben Kenntniß erlangt hatte, ja, das neue Kirchenbuch war
schon ein halbes Jahr im Gebrauche, bevor nur -- die Zeitungsschreiber
scheinen ganz und gar nicht in die Kirche zu gehen -- ein einziges öffent¬
liches Wort darüber gesprochen wurde. Die Sache war unter Geistlichen
abgehandelt, sodann vom Kirchenrathe in aller Stille gut geheißen und aus¬
geführt worden. Der in Basel von Alters her ausgeprägte streng kirchliche
Geist hat seine Herrschaft in solchem Grade zu behaupten und zu vermehren
gewußt, daß die Reformbestrebungen wie gar nicht vorhanden von ihm
behandelt weiden konnten. Die rechtgläubige Publicistik hob es rühmend
hervor, daß diese Agendenfrage in der Stadt des Erasmus und Oekolampad
keinerlei Kämpfe veranlaßt habe, wie anderswo, und daß dabei ein ganz ein¬
trächtiger Geist gewaltet habe. In den vorgeschriebenen Gebeten finden sich die
Anrufungen Christi als einer göttlichen Person, und das apostolische Glau¬
bensbekenntniß ist wieder in die Taufhandlung aufgenommen worden und
zwar mit der bindenden Eingangsformel: "bekennet nun mit mir den christ¬
lichen Glauben, auf welchen dieses Kind getauft werden soll." Es wurde
auf diese Weise eine kirchliche Ordnung erneuert, die alle diejenigen, welche
als Väter oder als Zeugen einer Taufe beizuwohnen haben, also alle evan-
gelischen Bürger und Einwohner Basels zwingt, in feierlichem Acte und vor
versammelter Gemeinde einen Glauben zu bekennen, den offenkundig ein
Theil derselben nicht als den seinigen anerkennt. Dieser "moralische" Zwang
erschien auch zu Basel den Freisinnigen als Angriff aus ihre Wahrhaftigkeit


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diesen, daß sie dem am 23. Mai zusammentretender Großen Rathe zur wei-
teren „Bereisung" unterbreitet werden können. Außerdem gewährleistet die
Cantonsverfassung ein kirchliches Referendum, indem sie die Bestimmung ent¬
hält: „Kirchliche Erlasse und Verordnungen gesetzgeberischer Natur unter¬
liegen der eonfesstonellen Volksabstimmung." In der Waadt wurde gegen
Ende des vorigen Jahres der Antrag auf Revision des Kirchengesetzes vom
Großen Rathe als zeitgemäß erklärt. Es handelt sich hier hauptsächlich um
Einführung der direkten Wahl der Geistlichen durch die Gemeinden, um Auf¬
hebung des Institutes der Kreisräthe und um die Wahl der Synodaldepu-
tirten durch die Kirchgemeinderäthe.

Eine eigenthümliche Stellung zu den kirchlichen Reformbestrebungen
nimmt Basel ein. Während sonst fast überall in der Schweiz diese Fragen
im Lichte der Oeffentlichkeit und unter Betheiligung ebensowohl der politi¬
schen als der kirchlichen Behörden, sowohl der Laienwelt als der Geistlich¬
keit verhandelt und entschieden werden, wurde um letzte Weihnacht von
der baslerischen Kirchenbehörde eine neue Liturgie eingeführt, ohne daß
dieser Gegenstand der Regierung oder sonst einer staatlichen Behörde zur
Kenntnißnahme und Genehmigung vorgelegt worden war oder das Publicum
von diesem Vorhaben Kenntniß erlangt hatte, ja, das neue Kirchenbuch war
schon ein halbes Jahr im Gebrauche, bevor nur — die Zeitungsschreiber
scheinen ganz und gar nicht in die Kirche zu gehen — ein einziges öffent¬
liches Wort darüber gesprochen wurde. Die Sache war unter Geistlichen
abgehandelt, sodann vom Kirchenrathe in aller Stille gut geheißen und aus¬
geführt worden. Der in Basel von Alters her ausgeprägte streng kirchliche
Geist hat seine Herrschaft in solchem Grade zu behaupten und zu vermehren
gewußt, daß die Reformbestrebungen wie gar nicht vorhanden von ihm
behandelt weiden konnten. Die rechtgläubige Publicistik hob es rühmend
hervor, daß diese Agendenfrage in der Stadt des Erasmus und Oekolampad
keinerlei Kämpfe veranlaßt habe, wie anderswo, und daß dabei ein ganz ein¬
trächtiger Geist gewaltet habe. In den vorgeschriebenen Gebeten finden sich die
Anrufungen Christi als einer göttlichen Person, und das apostolische Glau¬
bensbekenntniß ist wieder in die Taufhandlung aufgenommen worden und
zwar mit der bindenden Eingangsformel: „bekennet nun mit mir den christ¬
lichen Glauben, auf welchen dieses Kind getauft werden soll." Es wurde
auf diese Weise eine kirchliche Ordnung erneuert, die alle diejenigen, welche
als Väter oder als Zeugen einer Taufe beizuwohnen haben, also alle evan-
gelischen Bürger und Einwohner Basels zwingt, in feierlichem Acte und vor
versammelter Gemeinde einen Glauben zu bekennen, den offenkundig ein
Theil derselben nicht als den seinigen anerkennt. Dieser „moralische" Zwang
erschien auch zu Basel den Freisinnigen als Angriff aus ihre Wahrhaftigkeit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/313>, abgerufen am 18.12.2024.