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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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es dabei den andersgläubigen Kirchgenossen überlassen, in welcher Weise sie
sich innerlich zum Taufbekenntnisse stellen mögen; ja ein später zur Ortho¬
doxie übergegangener, damals noch liberaler Geistlicher hatte ausdrücklich
eine buchstäbliche Annahme des Bekenntnisses abgelehnt und demselben nur
eine lockere, fast auf Null reducirte Verbindlichkeit zugesprochen. Die Re¬
formbestrebungen der Geistlichkeit -- voran war wie gewöhnlich Zürich --
fußten hauptsächlich auf den Angriffen gegen das apostolische Symbolum und
gegen die bestehende alte Liturgie. Auch der Zürcherische Cantonsrath
hatte schon vor der demokratischen Volksbewegung auf politischem Ge¬
biete in dieser Angelegenheit die Initiative ergriffen und eine Revision des
Kirchenbuches angeordnet. Die Sache war der Kirchensynode überwiesen
worden und hatte dort zu langen und tiefgehenden Verhandlungen geführt,
in welchen die religiösen Gegensätze zu entschiedenem und würdigem Aus¬
drucke gelangten. Die Einwürfe gegen die alte Liturgie hatten sich haupt¬
sächlich gegen den starr orthodoxen Geist in den Kirchengebeten mit ihren
Anrufungen Christi als einer Gottheit gerichtet, welche die freisinnigeren
Mitglieder als unverträglich mit ihrer Ueberzeugung aus jenen Gebeten ver¬
bannen wollten. Ebenso gegen das sogenannte apostolische Glaubensbekennt-
niß, dessen Verlesung und stillschweigende Annahme bei den Taus- und Abend-
mahlhandluNgen die Liturgie vorschrieb. Es wurde darauf hingewiesen, daß
dieses Symbolum erst zwischen dem 3. und 6. Jahrhundert seine jetzige Ge¬
stalt erhalten habe, daß es somit nicht nur kein giltiger Ausdruck des urchrist¬
licher Geistes, wie man aus seinem usurpirter Namen schließen möchte, son¬
dern auch nicht, und noch viel weniger der Ausdruck moderner christlicher
Denkweise sei. Die Dogmen von der Geburt Christi aus Maria der Jung¬
frau, von seiner Höllen- und Himmelfahrt, seiner Wiederkunft auf den Wolken
des Himmels, von der Auferstehung des Fleisches seien durch die moderne
Anschauungsweise offenkundig aufgegeben und die dieser freiern Richtung
huldigenden Christen müssen die Heuchelei entschieden ablehnen, dieses Be¬
kenntnisses noch ferner sich zu bedienen. Angesichts dieser Kundgebungen
beschloß die Zürcherische Synode im October 1868 mit 68 gegen 5S Stim¬
men, daß die Landeskirche nicht mehr an jenes Bekenntniß zu binden und
die neu zu entwerfende Liturgie mit zweierlei Formularen einzurichten sei.
Unter der liberalen Majorität befanden sich die Mitglieder des Kirchenrathes
und unter diesen die Spitzen der Zürcherische" Vermittelungstheologie, ein
Antistes Fiedler und Prof. Alexander Schweizer. Die Liturgie wurde revi-
dirt und hatte nur noch die Genehmigung des Cantonsrathes zu gewärti¬
gen. Diese wurde jedoch in Folge der unterdeß beschlossenen Verfassungs¬
revision und der deshalb nahe bevorstehenden Gesammtneuwahl des Canton-


"Srenzboten II. 1870. 39

es dabei den andersgläubigen Kirchgenossen überlassen, in welcher Weise sie
sich innerlich zum Taufbekenntnisse stellen mögen; ja ein später zur Ortho¬
doxie übergegangener, damals noch liberaler Geistlicher hatte ausdrücklich
eine buchstäbliche Annahme des Bekenntnisses abgelehnt und demselben nur
eine lockere, fast auf Null reducirte Verbindlichkeit zugesprochen. Die Re¬
formbestrebungen der Geistlichkeit — voran war wie gewöhnlich Zürich —
fußten hauptsächlich auf den Angriffen gegen das apostolische Symbolum und
gegen die bestehende alte Liturgie. Auch der Zürcherische Cantonsrath
hatte schon vor der demokratischen Volksbewegung auf politischem Ge¬
biete in dieser Angelegenheit die Initiative ergriffen und eine Revision des
Kirchenbuches angeordnet. Die Sache war der Kirchensynode überwiesen
worden und hatte dort zu langen und tiefgehenden Verhandlungen geführt,
in welchen die religiösen Gegensätze zu entschiedenem und würdigem Aus¬
drucke gelangten. Die Einwürfe gegen die alte Liturgie hatten sich haupt¬
sächlich gegen den starr orthodoxen Geist in den Kirchengebeten mit ihren
Anrufungen Christi als einer Gottheit gerichtet, welche die freisinnigeren
Mitglieder als unverträglich mit ihrer Ueberzeugung aus jenen Gebeten ver¬
bannen wollten. Ebenso gegen das sogenannte apostolische Glaubensbekennt-
niß, dessen Verlesung und stillschweigende Annahme bei den Taus- und Abend-
mahlhandluNgen die Liturgie vorschrieb. Es wurde darauf hingewiesen, daß
dieses Symbolum erst zwischen dem 3. und 6. Jahrhundert seine jetzige Ge¬
stalt erhalten habe, daß es somit nicht nur kein giltiger Ausdruck des urchrist¬
licher Geistes, wie man aus seinem usurpirter Namen schließen möchte, son¬
dern auch nicht, und noch viel weniger der Ausdruck moderner christlicher
Denkweise sei. Die Dogmen von der Geburt Christi aus Maria der Jung¬
frau, von seiner Höllen- und Himmelfahrt, seiner Wiederkunft auf den Wolken
des Himmels, von der Auferstehung des Fleisches seien durch die moderne
Anschauungsweise offenkundig aufgegeben und die dieser freiern Richtung
huldigenden Christen müssen die Heuchelei entschieden ablehnen, dieses Be¬
kenntnisses noch ferner sich zu bedienen. Angesichts dieser Kundgebungen
beschloß die Zürcherische Synode im October 1868 mit 68 gegen 5S Stim¬
men, daß die Landeskirche nicht mehr an jenes Bekenntniß zu binden und
die neu zu entwerfende Liturgie mit zweierlei Formularen einzurichten sei.
Unter der liberalen Majorität befanden sich die Mitglieder des Kirchenrathes
und unter diesen die Spitzen der Zürcherische» Vermittelungstheologie, ein
Antistes Fiedler und Prof. Alexander Schweizer. Die Liturgie wurde revi-
dirt und hatte nur noch die Genehmigung des Cantonsrathes zu gewärti¬
gen. Diese wurde jedoch in Folge der unterdeß beschlossenen Verfassungs¬
revision und der deshalb nahe bevorstehenden Gesammtneuwahl des Canton-


«Srenzboten II. 1870. 39
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[0311] es dabei den andersgläubigen Kirchgenossen überlassen, in welcher Weise sie sich innerlich zum Taufbekenntnisse stellen mögen; ja ein später zur Ortho¬ doxie übergegangener, damals noch liberaler Geistlicher hatte ausdrücklich eine buchstäbliche Annahme des Bekenntnisses abgelehnt und demselben nur eine lockere, fast auf Null reducirte Verbindlichkeit zugesprochen. Die Re¬ formbestrebungen der Geistlichkeit — voran war wie gewöhnlich Zürich — fußten hauptsächlich auf den Angriffen gegen das apostolische Symbolum und gegen die bestehende alte Liturgie. Auch der Zürcherische Cantonsrath hatte schon vor der demokratischen Volksbewegung auf politischem Ge¬ biete in dieser Angelegenheit die Initiative ergriffen und eine Revision des Kirchenbuches angeordnet. Die Sache war der Kirchensynode überwiesen worden und hatte dort zu langen und tiefgehenden Verhandlungen geführt, in welchen die religiösen Gegensätze zu entschiedenem und würdigem Aus¬ drucke gelangten. Die Einwürfe gegen die alte Liturgie hatten sich haupt¬ sächlich gegen den starr orthodoxen Geist in den Kirchengebeten mit ihren Anrufungen Christi als einer Gottheit gerichtet, welche die freisinnigeren Mitglieder als unverträglich mit ihrer Ueberzeugung aus jenen Gebeten ver¬ bannen wollten. Ebenso gegen das sogenannte apostolische Glaubensbekennt- niß, dessen Verlesung und stillschweigende Annahme bei den Taus- und Abend- mahlhandluNgen die Liturgie vorschrieb. Es wurde darauf hingewiesen, daß dieses Symbolum erst zwischen dem 3. und 6. Jahrhundert seine jetzige Ge¬ stalt erhalten habe, daß es somit nicht nur kein giltiger Ausdruck des urchrist¬ licher Geistes, wie man aus seinem usurpirter Namen schließen möchte, son¬ dern auch nicht, und noch viel weniger der Ausdruck moderner christlicher Denkweise sei. Die Dogmen von der Geburt Christi aus Maria der Jung¬ frau, von seiner Höllen- und Himmelfahrt, seiner Wiederkunft auf den Wolken des Himmels, von der Auferstehung des Fleisches seien durch die moderne Anschauungsweise offenkundig aufgegeben und die dieser freiern Richtung huldigenden Christen müssen die Heuchelei entschieden ablehnen, dieses Be¬ kenntnisses noch ferner sich zu bedienen. Angesichts dieser Kundgebungen beschloß die Zürcherische Synode im October 1868 mit 68 gegen 5S Stim¬ men, daß die Landeskirche nicht mehr an jenes Bekenntniß zu binden und die neu zu entwerfende Liturgie mit zweierlei Formularen einzurichten sei. Unter der liberalen Majorität befanden sich die Mitglieder des Kirchenrathes und unter diesen die Spitzen der Zürcherische» Vermittelungstheologie, ein Antistes Fiedler und Prof. Alexander Schweizer. Die Liturgie wurde revi- dirt und hatte nur noch die Genehmigung des Cantonsrathes zu gewärti¬ gen. Diese wurde jedoch in Folge der unterdeß beschlossenen Verfassungs¬ revision und der deshalb nahe bevorstehenden Gesammtneuwahl des Canton- «Srenzboten II. 1870. 39

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/311>, abgerufen am 18.12.2024.