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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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schaft zeigt sich nach hiesigem Brauch in einer rücksichtslosen Versorgung der
Ihrigen mit Anstellungen und Aemtern.

Was speciell das Fabrikgesetz betrifft, in welchem man den Arbeiter¬
stand dadurch gewinnen wollte, daß man die Arbeitszeit auf ein bestimmtes
Mciximum beschränkte, so scheinen die Arbeiter selbst von dieser Maßnahme
befürchtet zu haben, daß man mit ungeschickter Hand die Axt an den Baum
legte, von dessen Früchten sie sich erhalten. Deshalb ward es verworfen. Die
Arbeiter selbst haben es gerichtet; eine Verbesserung ihrer socialen Lage, die
ihnen so hoch und heilig versprochen worden, um sie politisch zum Abfall
von ihren sie ernährenden "Systemlern" zu bewegen, vermochten sie in dem
Gesetze nicht zu erblicken. Eine andere Hauptversprechung war ferner die Er¬
leichterung der Steuerlast. Daß eine solche unter den obwaltenden Um¬
ständen nicht eintreten könne, wo der Staat eine Anzahl von Lasten, die bis¬
her die Privaten, wie z. B. die Ausrüstung der Milizen, oder die Gemein¬
den, wie z. B. einen Theil des Unterhalts der Schulen getragen, auf seine
Schultern genommen, das hatte man den Demokraten zum tausendsten Male
vorgerechnet. Vergeblich! Jetzt beweist der Voranschlag des demokratischen
Finanzdireetors. daß man doch Recht gehabt, daß die neue Staatsmaschine
keineswegs billiger arbeitet, als die frühere des "Systems" es gethan, ja
daß eine Erhöhung des Steuerfußes in sicherer Aussicht steht. Auch die Can-
tonal- oder Staatsbank, mit welcher man dem kleinen Manne wenn auch
nicht goldene Berge, doch viel wohlfeileres Geld verheißen, erfüllt nicht die
Hoffnungen, die man erregt hatte: noch Niemand hat unseres Wissens Geld zu
4 Procent vonderselben empfangen. -- Wer die Schweiz nur aus der Ferne
kennt, findet sich überrascht, wenn er sich die Dinge in der Nähe etwas ge¬
nauer ansieht. Die Ideale und Phrasen der Demokraten, welche auf dem
Papier der Zeitungen Anhänger gewinnen, verlieren sehr an Bedeutung, wenn
man das Treiben der Träger dieser Ideen kennen lernt. Sie erscheinen dem
Nichtschweizer meist als Herren mit abstoßenden Gewohnheiten. Der Fremde
erstaunt über die allgemeine an Einstimmigkeit grenzende Veruitheilung, welche
in den Kreisen der Wissenschaft und Bildung über das "neue System" ge¬
fällt wird, und kehrt wahrscheinlich mit wesentlich anderen Ansichten in die
Heimath zurück.

Es wurde in diesen Blättern vor einiger Zeit über die kirchlichen Be¬
wegungen in der Schweiz mit Hervorhebung dessen, was sich im Volke selbst
regt, berichtet. Gestatten Sie mir, diesen Bericht zu ergänzen. Schon 1845
hatte die schweizerische Predigergesellschaft die Geltung des apostolischen
Glaubensbekenntnisses aufs Freimüthigste besprochen und selbst der recht¬
gläubige Referent über diesen Gegenstand hatte zugeben müssen, daß von
einer stritten Verpflichtung auf dasselbe nicht mehr die Rede sein könne und


schaft zeigt sich nach hiesigem Brauch in einer rücksichtslosen Versorgung der
Ihrigen mit Anstellungen und Aemtern.

Was speciell das Fabrikgesetz betrifft, in welchem man den Arbeiter¬
stand dadurch gewinnen wollte, daß man die Arbeitszeit auf ein bestimmtes
Mciximum beschränkte, so scheinen die Arbeiter selbst von dieser Maßnahme
befürchtet zu haben, daß man mit ungeschickter Hand die Axt an den Baum
legte, von dessen Früchten sie sich erhalten. Deshalb ward es verworfen. Die
Arbeiter selbst haben es gerichtet; eine Verbesserung ihrer socialen Lage, die
ihnen so hoch und heilig versprochen worden, um sie politisch zum Abfall
von ihren sie ernährenden „Systemlern" zu bewegen, vermochten sie in dem
Gesetze nicht zu erblicken. Eine andere Hauptversprechung war ferner die Er¬
leichterung der Steuerlast. Daß eine solche unter den obwaltenden Um¬
ständen nicht eintreten könne, wo der Staat eine Anzahl von Lasten, die bis¬
her die Privaten, wie z. B. die Ausrüstung der Milizen, oder die Gemein¬
den, wie z. B. einen Theil des Unterhalts der Schulen getragen, auf seine
Schultern genommen, das hatte man den Demokraten zum tausendsten Male
vorgerechnet. Vergeblich! Jetzt beweist der Voranschlag des demokratischen
Finanzdireetors. daß man doch Recht gehabt, daß die neue Staatsmaschine
keineswegs billiger arbeitet, als die frühere des „Systems" es gethan, ja
daß eine Erhöhung des Steuerfußes in sicherer Aussicht steht. Auch die Can-
tonal- oder Staatsbank, mit welcher man dem kleinen Manne wenn auch
nicht goldene Berge, doch viel wohlfeileres Geld verheißen, erfüllt nicht die
Hoffnungen, die man erregt hatte: noch Niemand hat unseres Wissens Geld zu
4 Procent vonderselben empfangen. — Wer die Schweiz nur aus der Ferne
kennt, findet sich überrascht, wenn er sich die Dinge in der Nähe etwas ge¬
nauer ansieht. Die Ideale und Phrasen der Demokraten, welche auf dem
Papier der Zeitungen Anhänger gewinnen, verlieren sehr an Bedeutung, wenn
man das Treiben der Träger dieser Ideen kennen lernt. Sie erscheinen dem
Nichtschweizer meist als Herren mit abstoßenden Gewohnheiten. Der Fremde
erstaunt über die allgemeine an Einstimmigkeit grenzende Veruitheilung, welche
in den Kreisen der Wissenschaft und Bildung über das „neue System" ge¬
fällt wird, und kehrt wahrscheinlich mit wesentlich anderen Ansichten in die
Heimath zurück.

Es wurde in diesen Blättern vor einiger Zeit über die kirchlichen Be¬
wegungen in der Schweiz mit Hervorhebung dessen, was sich im Volke selbst
regt, berichtet. Gestatten Sie mir, diesen Bericht zu ergänzen. Schon 1845
hatte die schweizerische Predigergesellschaft die Geltung des apostolischen
Glaubensbekenntnisses aufs Freimüthigste besprochen und selbst der recht¬
gläubige Referent über diesen Gegenstand hatte zugeben müssen, daß von
einer stritten Verpflichtung auf dasselbe nicht mehr die Rede sein könne und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/310>, abgerufen am 27.07.2024.