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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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Einfluß der den Künstler umgebenden Wirklichkeit zu betrachten sein, welche
die Idealität der Originalcomposition trübte.

Zu derselben Erkenntniß gelangen wir durch Vergleichung der campani-
schen Wandgemälde mit denen, welche an anderen Stellen des orbis g-uti-
"Mus an das Tageslicht gebracht worden sind. Leider ist unsere Kenntniß
auf diesem Gebiete sehr beschränkt und bietet uns vor der Hand nur Rom
hinreichenden Stoff zur Vergleichung. Immerhin jedoch ergibt sich aus der
Vergleichung entsprechender römischer Wandbilder deutlich genug, wie stark
die localen Einflüsse die Charakteristik der Bilder bedingten. Bei den franzö¬
sischen Ausgrabungen auf dem Palatin haben sich in einem südlich von dem
Palaste des Tiberius gelegenen Privathause Wandgemälde gefunden, welche
in vielen Motiven der Composition vollständig mit denen der campanischen
Städte übereinstimmen. Nichtsdestoweniger ist die Charakteristik namentlich
der Frauengestalten an beiden Orten eine beträchtlich verschiedene. Die
Frauengestalten aus den römischen Fresken, z. B. die Jo und die Galateia
auf dem Palatin, sind schlanker, zarter und von durchsichtigerem Colorit, als
auf den entsprechenden campanischen Bildern, wo sie in der Regel mit größe¬
rer Fülle und kräftigerer Sinnlichkeit austreten. Dort mag die feinere Atmo¬
sphäre, die unmittelbarere Nähe von Originalwerken aus hellenistischer Epoche,
vielleicht auch die Erscheinungsweise der distinguirten römischen Weltdame
auf die Darstellung des Malers gewirkt haben, hier der naiv und unver¬
hüllt zu Tage tretende üppig sinnliche Charakter, wie er den Schönen an
den Ufern des neapolitanischen Golfs im Alterthum eigen gewesen sein wird
wie heut zu Tage. Jedenfalls zeigt uns auch diese Vergleichung, daß die
campanischen Wandgemälde in der Charakteristik ihrer Gestalten vielfach durch
locale Einflüsse bestimmt waren und somit von der Darstellungsweise ihrer
hellenistischen Originale abwichen.

Eine weitere Frage betrifft die umfangreicheren und aus mehreren Fi¬
guren zusammengesetzten Compositionen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß
auf den campanischen Wandgemälden vielfach Figuren aus ihrem ursprüng¬
lichen Zusammenhange gelöst und in andere Compositionen übertragen sind.
Dies läßt sich mit hinreichender Sicherheit nachweisen bei einem in mehreren
Repliken wiederkehrenden Bilde, welches Orestes und Pylades gefesselt vor
König Thoas darstellt, während im Hintergrunde Jvhigeneia die Tempel¬
treppe herabschreitet. Bei der Feinheit der psychologischen Charakteristik der
einzelnen Figuren, wie sie namentlich in der größten und am Besten durch¬
geführten Replik, der aus Casa del Citarista, hervortritt, hat man alles
Recht, einen bedeutenden Künstler als Erfinder dieses Werkes vorauszusetzen,
und unwillkürlich denkt man dabei an Timomachos, den letzten epoche¬
machenden Meister in der Entwickelung der griechischen Malerei. Er be-


Grenzboten II. 1870. 37

Einfluß der den Künstler umgebenden Wirklichkeit zu betrachten sein, welche
die Idealität der Originalcomposition trübte.

Zu derselben Erkenntniß gelangen wir durch Vergleichung der campani-
schen Wandgemälde mit denen, welche an anderen Stellen des orbis g-uti-
«Mus an das Tageslicht gebracht worden sind. Leider ist unsere Kenntniß
auf diesem Gebiete sehr beschränkt und bietet uns vor der Hand nur Rom
hinreichenden Stoff zur Vergleichung. Immerhin jedoch ergibt sich aus der
Vergleichung entsprechender römischer Wandbilder deutlich genug, wie stark
die localen Einflüsse die Charakteristik der Bilder bedingten. Bei den franzö¬
sischen Ausgrabungen auf dem Palatin haben sich in einem südlich von dem
Palaste des Tiberius gelegenen Privathause Wandgemälde gefunden, welche
in vielen Motiven der Composition vollständig mit denen der campanischen
Städte übereinstimmen. Nichtsdestoweniger ist die Charakteristik namentlich
der Frauengestalten an beiden Orten eine beträchtlich verschiedene. Die
Frauengestalten aus den römischen Fresken, z. B. die Jo und die Galateia
auf dem Palatin, sind schlanker, zarter und von durchsichtigerem Colorit, als
auf den entsprechenden campanischen Bildern, wo sie in der Regel mit größe¬
rer Fülle und kräftigerer Sinnlichkeit austreten. Dort mag die feinere Atmo¬
sphäre, die unmittelbarere Nähe von Originalwerken aus hellenistischer Epoche,
vielleicht auch die Erscheinungsweise der distinguirten römischen Weltdame
auf die Darstellung des Malers gewirkt haben, hier der naiv und unver¬
hüllt zu Tage tretende üppig sinnliche Charakter, wie er den Schönen an
den Ufern des neapolitanischen Golfs im Alterthum eigen gewesen sein wird
wie heut zu Tage. Jedenfalls zeigt uns auch diese Vergleichung, daß die
campanischen Wandgemälde in der Charakteristik ihrer Gestalten vielfach durch
locale Einflüsse bestimmt waren und somit von der Darstellungsweise ihrer
hellenistischen Originale abwichen.

Eine weitere Frage betrifft die umfangreicheren und aus mehreren Fi¬
guren zusammengesetzten Compositionen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß
auf den campanischen Wandgemälden vielfach Figuren aus ihrem ursprüng¬
lichen Zusammenhange gelöst und in andere Compositionen übertragen sind.
Dies läßt sich mit hinreichender Sicherheit nachweisen bei einem in mehreren
Repliken wiederkehrenden Bilde, welches Orestes und Pylades gefesselt vor
König Thoas darstellt, während im Hintergrunde Jvhigeneia die Tempel¬
treppe herabschreitet. Bei der Feinheit der psychologischen Charakteristik der
einzelnen Figuren, wie sie namentlich in der größten und am Besten durch¬
geführten Replik, der aus Casa del Citarista, hervortritt, hat man alles
Recht, einen bedeutenden Künstler als Erfinder dieses Werkes vorauszusetzen,
und unwillkürlich denkt man dabei an Timomachos, den letzten epoche¬
machenden Meister in der Entwickelung der griechischen Malerei. Er be-


Grenzboten II. 1870. 37
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[0295] Einfluß der den Künstler umgebenden Wirklichkeit zu betrachten sein, welche die Idealität der Originalcomposition trübte. Zu derselben Erkenntniß gelangen wir durch Vergleichung der campani- schen Wandgemälde mit denen, welche an anderen Stellen des orbis g-uti- «Mus an das Tageslicht gebracht worden sind. Leider ist unsere Kenntniß auf diesem Gebiete sehr beschränkt und bietet uns vor der Hand nur Rom hinreichenden Stoff zur Vergleichung. Immerhin jedoch ergibt sich aus der Vergleichung entsprechender römischer Wandbilder deutlich genug, wie stark die localen Einflüsse die Charakteristik der Bilder bedingten. Bei den franzö¬ sischen Ausgrabungen auf dem Palatin haben sich in einem südlich von dem Palaste des Tiberius gelegenen Privathause Wandgemälde gefunden, welche in vielen Motiven der Composition vollständig mit denen der campanischen Städte übereinstimmen. Nichtsdestoweniger ist die Charakteristik namentlich der Frauengestalten an beiden Orten eine beträchtlich verschiedene. Die Frauengestalten aus den römischen Fresken, z. B. die Jo und die Galateia auf dem Palatin, sind schlanker, zarter und von durchsichtigerem Colorit, als auf den entsprechenden campanischen Bildern, wo sie in der Regel mit größe¬ rer Fülle und kräftigerer Sinnlichkeit austreten. Dort mag die feinere Atmo¬ sphäre, die unmittelbarere Nähe von Originalwerken aus hellenistischer Epoche, vielleicht auch die Erscheinungsweise der distinguirten römischen Weltdame auf die Darstellung des Malers gewirkt haben, hier der naiv und unver¬ hüllt zu Tage tretende üppig sinnliche Charakter, wie er den Schönen an den Ufern des neapolitanischen Golfs im Alterthum eigen gewesen sein wird wie heut zu Tage. Jedenfalls zeigt uns auch diese Vergleichung, daß die campanischen Wandgemälde in der Charakteristik ihrer Gestalten vielfach durch locale Einflüsse bestimmt waren und somit von der Darstellungsweise ihrer hellenistischen Originale abwichen. Eine weitere Frage betrifft die umfangreicheren und aus mehreren Fi¬ guren zusammengesetzten Compositionen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß auf den campanischen Wandgemälden vielfach Figuren aus ihrem ursprüng¬ lichen Zusammenhange gelöst und in andere Compositionen übertragen sind. Dies läßt sich mit hinreichender Sicherheit nachweisen bei einem in mehreren Repliken wiederkehrenden Bilde, welches Orestes und Pylades gefesselt vor König Thoas darstellt, während im Hintergrunde Jvhigeneia die Tempel¬ treppe herabschreitet. Bei der Feinheit der psychologischen Charakteristik der einzelnen Figuren, wie sie namentlich in der größten und am Besten durch¬ geführten Replik, der aus Casa del Citarista, hervortritt, hat man alles Recht, einen bedeutenden Künstler als Erfinder dieses Werkes vorauszusetzen, und unwillkürlich denkt man dabei an Timomachos, den letzten epoche¬ machenden Meister in der Entwickelung der griechischen Malerei. Er be- Grenzboten II. 1870. 37

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/295>, abgerufen am 01.09.2024.