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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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urtheile mehr vollzogen, aber das geschriebene Gesetz besteht noch im Wider¬
spruch zu dem humanen Empfinden unseres Volkes. Der dritte Fall war
die Verurtheilung eines fünf- und eines neunjährigen Kindes zu sieben
und ein halbjähriger Gefängnißstrafe. Der Spruch ist über das fünfjährige
Kind in dessen Abwesenheit gefällt und nicht allein ganz unstatthaft, sondern
geradezu unmenschlich. Bei diesen letzten Fällen hat es Monate gedauert,
ehe Irrthum und Leichtsinn des Verfahrens und die Unwissenheit der Richter
ans Licht gebracht und öffentlich besprochen wurden. Mit Recht durfte man
fragen: Kommen nicht häufig dergleichen Irrthümer vor und wie geht es
bei den niedern Gerichten zu, wenn die höheren solche Zeugnisse der Un¬
fähigkeit ablegen? Die Antwort ist kaum zweifelhaft. Wenn man die
Urtheilssprüche näher untersucht, kommt man zu dem traurigen Ergebniß,
daß ein großer Theil unseres Richterstandes seiner Aufgabe durchaus nicht
gewachsen ist.

Die Ursache liegt zunächst in der Ernennung der Richter. Der Gerichts¬
hof, bei dem eine Vacanz eintritt, ernennt drei Kandidaten, woraus der
Justizminister einen erwählt. Alles hängt von Connexionen u. dergl. ab,
Fähigkeit wird Nebensache. Dann aber ist das Juristenexamen bei unseren
Universitäten, welches zum Eintritt in den Richterstand befähigt, derart, daß
es nicht die geringste Bürgschaft für das Wissen und Können des Erami-
nirten leistet. Im Allgemeinen läßt auch unser academischer Unterricht sehr
viel zu wünschen übrig.

Angesichts solcher eclatanten Fälle mangelhafter Justizpflege durch studirte
Richter sträubt man sich dennoch sehr gegen die Einführung der Geschwornen-
gerichre. Man traut unserm Bürgerstande nicht genug Rechtsgefühl zu, ohne
den Beweis liefern zu können, daß wir in dieser Beziehung hinter andern
Nationen zurückstehen. Der Prozeß des Prinzen Napoleon hat den Gegnern
der Jury eine willkommene Waffe in die Hand gegeben. Als anderer Grund
wird angeführt, daß man unsern Bürgern gar keinen Dienst damit erweise,
wenn man sie zu solchen Leistungen des Selfgovernments heranzöge. Es
kostet schon Mühe genug, sie zur Ausübung ihrer constitutionellen Rechte
heranzutreiben, da das große Publicum sich am liebsten nicht mit öffentlichen
Angelegenheiten beschäftigt. Wie oben gesagt, recrutirt sich unsere zweite
Kammer (die erste wird durch die Provinzialstände ernannt, die wiederum
von den Höchstbesteuerten erwählt werden) fast ausschließlich aus den Kreisen
der Vermögenden, welchen dieses Vorrecht nicht bestritten wird. Auch unsere
gesellschaftlichen Zustände halten dabei nicht wenig zurück. Trotz der politi¬
schen und bürgerlichen Freiheit, die unsere Verfassung gewährt und deren wir
uns so gerne rühmen, besteht eine Abhängigkeit der Bürger voneinander,
die drückender und lähmender wirkt als Bureaukratenherrschast. Die Aristo-


urtheile mehr vollzogen, aber das geschriebene Gesetz besteht noch im Wider¬
spruch zu dem humanen Empfinden unseres Volkes. Der dritte Fall war
die Verurtheilung eines fünf- und eines neunjährigen Kindes zu sieben
und ein halbjähriger Gefängnißstrafe. Der Spruch ist über das fünfjährige
Kind in dessen Abwesenheit gefällt und nicht allein ganz unstatthaft, sondern
geradezu unmenschlich. Bei diesen letzten Fällen hat es Monate gedauert,
ehe Irrthum und Leichtsinn des Verfahrens und die Unwissenheit der Richter
ans Licht gebracht und öffentlich besprochen wurden. Mit Recht durfte man
fragen: Kommen nicht häufig dergleichen Irrthümer vor und wie geht es
bei den niedern Gerichten zu, wenn die höheren solche Zeugnisse der Un¬
fähigkeit ablegen? Die Antwort ist kaum zweifelhaft. Wenn man die
Urtheilssprüche näher untersucht, kommt man zu dem traurigen Ergebniß,
daß ein großer Theil unseres Richterstandes seiner Aufgabe durchaus nicht
gewachsen ist.

Die Ursache liegt zunächst in der Ernennung der Richter. Der Gerichts¬
hof, bei dem eine Vacanz eintritt, ernennt drei Kandidaten, woraus der
Justizminister einen erwählt. Alles hängt von Connexionen u. dergl. ab,
Fähigkeit wird Nebensache. Dann aber ist das Juristenexamen bei unseren
Universitäten, welches zum Eintritt in den Richterstand befähigt, derart, daß
es nicht die geringste Bürgschaft für das Wissen und Können des Erami-
nirten leistet. Im Allgemeinen läßt auch unser academischer Unterricht sehr
viel zu wünschen übrig.

Angesichts solcher eclatanten Fälle mangelhafter Justizpflege durch studirte
Richter sträubt man sich dennoch sehr gegen die Einführung der Geschwornen-
gerichre. Man traut unserm Bürgerstande nicht genug Rechtsgefühl zu, ohne
den Beweis liefern zu können, daß wir in dieser Beziehung hinter andern
Nationen zurückstehen. Der Prozeß des Prinzen Napoleon hat den Gegnern
der Jury eine willkommene Waffe in die Hand gegeben. Als anderer Grund
wird angeführt, daß man unsern Bürgern gar keinen Dienst damit erweise,
wenn man sie zu solchen Leistungen des Selfgovernments heranzöge. Es
kostet schon Mühe genug, sie zur Ausübung ihrer constitutionellen Rechte
heranzutreiben, da das große Publicum sich am liebsten nicht mit öffentlichen
Angelegenheiten beschäftigt. Wie oben gesagt, recrutirt sich unsere zweite
Kammer (die erste wird durch die Provinzialstände ernannt, die wiederum
von den Höchstbesteuerten erwählt werden) fast ausschließlich aus den Kreisen
der Vermögenden, welchen dieses Vorrecht nicht bestritten wird. Auch unsere
gesellschaftlichen Zustände halten dabei nicht wenig zurück. Trotz der politi¬
schen und bürgerlichen Freiheit, die unsere Verfassung gewährt und deren wir
uns so gerne rühmen, besteht eine Abhängigkeit der Bürger voneinander,
die drückender und lähmender wirkt als Bureaukratenherrschast. Die Aristo-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/278>, abgerufen am 01.09.2024.