Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
GW ungedruckter Brief Wieland's.
Mitgetheilt von Dr. L. Hirzel.

In Eckermann's Gesprächen wird die Aeußerung Goethe's berichtet, daß
in den Wahlverwandtschaften mehr stecke, als irgend Jemand bei einmaligem
Lesen aufzunehmen im Stande sei (II. 42) und daß man zur Zeit, da
der Roman erschien, wie später, dem Dichter nicht eben viel angenehmes
über sein Werk erzeigt habe (I. 216). Die letztere Aeußerung wird durch
eine ganze Reihe bekannter zeitgenössischer Urtheile (auch von Wieland) be¬
legt, die erstere dürfte durch die folgende Stelle aus einem Briefe Wieland's
am besten bestätigt werden. Am 10. Februar 1810 schrieb Wieland an seine
Tochter Charlotte, die Gemahlin Heinrich Geßners, nach Zürich:

"Verzeihe, liebes Kind, daß ich Dein Verlangen, mein Urtheil von den
Wahlverwandtschaften, (an welchen dieser Titel, dünkt mich, das einzige
alberne ist), zu wissen, diesmal nicht stillen kann. Das Werk wird von den
Einen zu übermäßig gelobt, von den Andern vielleicht zu scharf getadelt, auch
gehört es von einer Seite unter die besten, von der andern unter die tadelns-
würdigsten Producte seines genialischer, aber das Publicum gar zu sehr
verachtenden Urhebers. Das Buch muß (wie Goethe selbst sagt) dreimal
gelesen werden und ich zweifle nicht, wenn Du es zum drittenmal, folglich
mit ganz ruhiger Besonnenheit gelesen hast, so wird Dein eignes Urtheil
mit dem meinigen ziemlich zusammenstimmen. Adieu" :c.

Heinrich Geßner, der Herausgeber der in Zürich 1816--1816 erschienenen
Sammlung Wieland'scher Briefe, hat, wie man leicht sieht, den diese Stelle
enthaltenden Brief nicht blos deshalb unberücksichtigt gelassen, weil größten-
theils Familienangelegenheiten dessen Inhalt bilden. Im Nachlaß H. Geß-
ner's, dessen Durchsicht mir Herr Dr. A. Geßner in Zürich gütigst gestattete,
finden sich aber auch noch einige andere Briefe Wieland's, von denen ich hier
einen sehr charakteristischen und merkwürdigen an seinen Sohn Ludwig mit¬
theile. Das Verständniß der Familienverhältnisse möge ein vorgesetzter Brief
des Sohnes mit Nachschrift des Vaters geben:

Ludwig Wieland an Heinrich Geßner in Bern. Osmannstädt,
den 26. Sept. (?) 1800. Wahrscheinlich haben Sie, lieber Bruder, mich schon
längst aus der Liste Ihrer Angehörigen und Lieben ausgestrichen und mit
Recht, denn womit kann ich das gänzliche Stillschweigen so mancher Jahre
gegen eine Schwester, die ich zärtlich lieoe, und einen Bruder, den ich so sehr
achte, entschuldigen? Und doch ist die Ursache davon nicht Vergessenheit noch


GW ungedruckter Brief Wieland's.
Mitgetheilt von Dr. L. Hirzel.

In Eckermann's Gesprächen wird die Aeußerung Goethe's berichtet, daß
in den Wahlverwandtschaften mehr stecke, als irgend Jemand bei einmaligem
Lesen aufzunehmen im Stande sei (II. 42) und daß man zur Zeit, da
der Roman erschien, wie später, dem Dichter nicht eben viel angenehmes
über sein Werk erzeigt habe (I. 216). Die letztere Aeußerung wird durch
eine ganze Reihe bekannter zeitgenössischer Urtheile (auch von Wieland) be¬
legt, die erstere dürfte durch die folgende Stelle aus einem Briefe Wieland's
am besten bestätigt werden. Am 10. Februar 1810 schrieb Wieland an seine
Tochter Charlotte, die Gemahlin Heinrich Geßners, nach Zürich:

„Verzeihe, liebes Kind, daß ich Dein Verlangen, mein Urtheil von den
Wahlverwandtschaften, (an welchen dieser Titel, dünkt mich, das einzige
alberne ist), zu wissen, diesmal nicht stillen kann. Das Werk wird von den
Einen zu übermäßig gelobt, von den Andern vielleicht zu scharf getadelt, auch
gehört es von einer Seite unter die besten, von der andern unter die tadelns-
würdigsten Producte seines genialischer, aber das Publicum gar zu sehr
verachtenden Urhebers. Das Buch muß (wie Goethe selbst sagt) dreimal
gelesen werden und ich zweifle nicht, wenn Du es zum drittenmal, folglich
mit ganz ruhiger Besonnenheit gelesen hast, so wird Dein eignes Urtheil
mit dem meinigen ziemlich zusammenstimmen. Adieu" :c.

Heinrich Geßner, der Herausgeber der in Zürich 1816—1816 erschienenen
Sammlung Wieland'scher Briefe, hat, wie man leicht sieht, den diese Stelle
enthaltenden Brief nicht blos deshalb unberücksichtigt gelassen, weil größten-
theils Familienangelegenheiten dessen Inhalt bilden. Im Nachlaß H. Geß-
ner's, dessen Durchsicht mir Herr Dr. A. Geßner in Zürich gütigst gestattete,
finden sich aber auch noch einige andere Briefe Wieland's, von denen ich hier
einen sehr charakteristischen und merkwürdigen an seinen Sohn Ludwig mit¬
theile. Das Verständniß der Familienverhältnisse möge ein vorgesetzter Brief
des Sohnes mit Nachschrift des Vaters geben:

Ludwig Wieland an Heinrich Geßner in Bern. Osmannstädt,
den 26. Sept. (?) 1800. Wahrscheinlich haben Sie, lieber Bruder, mich schon
längst aus der Liste Ihrer Angehörigen und Lieben ausgestrichen und mit
Recht, denn womit kann ich das gänzliche Stillschweigen so mancher Jahre
gegen eine Schwester, die ich zärtlich lieoe, und einen Bruder, den ich so sehr
achte, entschuldigen? Und doch ist die Ursache davon nicht Vergessenheit noch


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0266" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/123886"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> GW ungedruckter Brief Wieland's.<lb/><note type="byline"> Mitgetheilt von Dr. L. Hirzel.</note></head><lb/>
          <p xml:id="ID_817"> In Eckermann's Gesprächen wird die Aeußerung Goethe's berichtet, daß<lb/>
in den Wahlverwandtschaften mehr stecke, als irgend Jemand bei einmaligem<lb/>
Lesen aufzunehmen im Stande sei (II. 42) und daß man zur Zeit, da<lb/>
der Roman erschien, wie später, dem Dichter nicht eben viel angenehmes<lb/>
über sein Werk erzeigt habe (I. 216). Die letztere Aeußerung wird durch<lb/>
eine ganze Reihe bekannter zeitgenössischer Urtheile (auch von Wieland) be¬<lb/>
legt, die erstere dürfte durch die folgende Stelle aus einem Briefe Wieland's<lb/>
am besten bestätigt werden. Am 10. Februar 1810 schrieb Wieland an seine<lb/>
Tochter Charlotte, die Gemahlin Heinrich Geßners, nach Zürich:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_818"> &#x201E;Verzeihe, liebes Kind, daß ich Dein Verlangen, mein Urtheil von den<lb/>
Wahlverwandtschaften, (an welchen dieser Titel, dünkt mich, das einzige<lb/>
alberne ist), zu wissen, diesmal nicht stillen kann. Das Werk wird von den<lb/>
Einen zu übermäßig gelobt, von den Andern vielleicht zu scharf getadelt, auch<lb/>
gehört es von einer Seite unter die besten, von der andern unter die tadelns-<lb/>
würdigsten Producte seines genialischer, aber das Publicum gar zu sehr<lb/>
verachtenden Urhebers. Das Buch muß (wie Goethe selbst sagt) dreimal<lb/>
gelesen werden und ich zweifle nicht, wenn Du es zum drittenmal, folglich<lb/>
mit ganz ruhiger Besonnenheit gelesen hast, so wird Dein eignes Urtheil<lb/>
mit dem meinigen ziemlich zusammenstimmen.  Adieu" :c.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_819"> Heinrich Geßner, der Herausgeber der in Zürich 1816&#x2014;1816 erschienenen<lb/>
Sammlung Wieland'scher Briefe, hat, wie man leicht sieht, den diese Stelle<lb/>
enthaltenden Brief nicht blos deshalb unberücksichtigt gelassen, weil größten-<lb/>
theils Familienangelegenheiten dessen Inhalt bilden. Im Nachlaß H. Geß-<lb/>
ner's, dessen Durchsicht mir Herr Dr. A. Geßner in Zürich gütigst gestattete,<lb/>
finden sich aber auch noch einige andere Briefe Wieland's, von denen ich hier<lb/>
einen sehr charakteristischen und merkwürdigen an seinen Sohn Ludwig mit¬<lb/>
theile. Das Verständniß der Familienverhältnisse möge ein vorgesetzter Brief<lb/>
des Sohnes mit Nachschrift des Vaters geben:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_820" next="#ID_821"> Ludwig Wieland an Heinrich Geßner in Bern. Osmannstädt,<lb/>
den 26. Sept. (?) 1800. Wahrscheinlich haben Sie, lieber Bruder, mich schon<lb/>
längst aus der Liste Ihrer Angehörigen und Lieben ausgestrichen und mit<lb/>
Recht, denn womit kann ich das gänzliche Stillschweigen so mancher Jahre<lb/>
gegen eine Schwester, die ich zärtlich lieoe, und einen Bruder, den ich so sehr<lb/>
achte, entschuldigen? Und doch ist die Ursache davon nicht Vergessenheit noch</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0266] GW ungedruckter Brief Wieland's. Mitgetheilt von Dr. L. Hirzel. In Eckermann's Gesprächen wird die Aeußerung Goethe's berichtet, daß in den Wahlverwandtschaften mehr stecke, als irgend Jemand bei einmaligem Lesen aufzunehmen im Stande sei (II. 42) und daß man zur Zeit, da der Roman erschien, wie später, dem Dichter nicht eben viel angenehmes über sein Werk erzeigt habe (I. 216). Die letztere Aeußerung wird durch eine ganze Reihe bekannter zeitgenössischer Urtheile (auch von Wieland) be¬ legt, die erstere dürfte durch die folgende Stelle aus einem Briefe Wieland's am besten bestätigt werden. Am 10. Februar 1810 schrieb Wieland an seine Tochter Charlotte, die Gemahlin Heinrich Geßners, nach Zürich: „Verzeihe, liebes Kind, daß ich Dein Verlangen, mein Urtheil von den Wahlverwandtschaften, (an welchen dieser Titel, dünkt mich, das einzige alberne ist), zu wissen, diesmal nicht stillen kann. Das Werk wird von den Einen zu übermäßig gelobt, von den Andern vielleicht zu scharf getadelt, auch gehört es von einer Seite unter die besten, von der andern unter die tadelns- würdigsten Producte seines genialischer, aber das Publicum gar zu sehr verachtenden Urhebers. Das Buch muß (wie Goethe selbst sagt) dreimal gelesen werden und ich zweifle nicht, wenn Du es zum drittenmal, folglich mit ganz ruhiger Besonnenheit gelesen hast, so wird Dein eignes Urtheil mit dem meinigen ziemlich zusammenstimmen. Adieu" :c. Heinrich Geßner, der Herausgeber der in Zürich 1816—1816 erschienenen Sammlung Wieland'scher Briefe, hat, wie man leicht sieht, den diese Stelle enthaltenden Brief nicht blos deshalb unberücksichtigt gelassen, weil größten- theils Familienangelegenheiten dessen Inhalt bilden. Im Nachlaß H. Geß- ner's, dessen Durchsicht mir Herr Dr. A. Geßner in Zürich gütigst gestattete, finden sich aber auch noch einige andere Briefe Wieland's, von denen ich hier einen sehr charakteristischen und merkwürdigen an seinen Sohn Ludwig mit¬ theile. Das Verständniß der Familienverhältnisse möge ein vorgesetzter Brief des Sohnes mit Nachschrift des Vaters geben: Ludwig Wieland an Heinrich Geßner in Bern. Osmannstädt, den 26. Sept. (?) 1800. Wahrscheinlich haben Sie, lieber Bruder, mich schon längst aus der Liste Ihrer Angehörigen und Lieben ausgestrichen und mit Recht, denn womit kann ich das gänzliche Stillschweigen so mancher Jahre gegen eine Schwester, die ich zärtlich lieoe, und einen Bruder, den ich so sehr achte, entschuldigen? Und doch ist die Ursache davon nicht Vergessenheit noch

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/266
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/266>, abgerufen am 18.12.2024.