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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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fast wichtiger als die Stunden, in denen er die Vertreter fremder Gro߬
mächte empfängt, und er wandelt auf dem Trottoir Arm in Arm mit dem
Vertreter eines einflußreichen Blattes, um für seine Maßregeln geneigtes
Urtheil zu finden. Und wieder gegenüber dieser bedrohlichen, unzuverlässigen,
reizbaren Macht der Tagesmeinung in der Hauptstadt sucht der Herr des
Ministers, der Kaiser selbst, sich einen anderen Richter. Er appellirt an die
Meinung der großen Masse, welche von dem Wellengeräusch der Presse, die
über ihren Köpfen wogt, noch wenig aufgeregt wird. Aber die Gewalten
der Tiefe, welche der Kaiser beschwört, werden zum großen Theil durch eine
andere geheime Macht regiert, durch die Priester der katholischen Kirche.
Gegen die treibende Unruhe und die Frivolität der Stadtbildung beschwört
der Kaiser als höhere Gewalt den Sinn der Millionen herauf, welche in der
Stille geleitet werden, oft ohne zu wissen, durch wen. Wir zweifeln nicht,
daß dem Kaiserreich wieder eine große Mehrzahl der Franzosen Recht geben
wird, wenn nicht mehr acht Millionen vielleicht doch sieben Millionen. Und
in einigen Jahren vielleicht sechs Millionen oder weniger. Eine solche ab¬
steigende Scala der Volksstimmen ist für die höchste Gewalt eines Staates,
welche doch zu einer Dynastie werden will, auf die Länge unmöglich, sie er¬
scheint uns Deutschen wie der Uebergang zur Republik, das heißt für Frank¬
reich zu einer Gewaltherrschaft der Stadt Paris über bevormundete Pro¬
vinzen in neuen Formen.

Sieht es doch aus, als sollten die Völker romanischer Sprache, denen
ihr leidenschaftliches Naturell und die Herrschaft der römischen Kirche die
Continuität einer starken Regierung nöthiger machen, als den Germanen, der
Reihe nach die Grundlagen eines monarchischen Staatslebens verlieren.
Spanien vermag keinen König zu finden, und das Haus Savoyen sühlt im
Frühjahr 1870 sich in seiner Herrschaft über Neapel und Sicilien unsicherer
als im Jahre 1866.

Ein lehrreiches Gegenbild zu den französischen Zuständen bieten die Ver¬
fassungskämpfe des östreichischen Kaiserstaats. Dort bindet ein altes Fürsten¬
geschlecht, uralte Zusammengehörigkeit und die reale Gewalt aller Verkehrs¬
interessen die Landestheile zu einer politischen Einheit zusammen. Dennoch ist
dort gegen den Widerstand der einzelnen Theile das allgemeine Stimmrecht
nicht einmal für die Wahl von Abgeordneten zum Reichstage durchzusetzen.
Wie die Ungarn fordern Polen und Czechen die despotische Herrschaft ihrer
Sprache und ihres Volksthums über die abgeneigten Bevölkerungstheile ihrer
Landschaft, und die Verhandlungen, welche das Ministerium Potocki in diesen
Tagen mit den trotzigen Parteiführern gepflogen hat, lassen sehr unsicher, ob
es dem Ministerium der Vermittelung gelingen wird, von Oestreich eine
Herrschaft der alt-conservativen Partei und ein zeitweiliges Zurückstauen auf


fast wichtiger als die Stunden, in denen er die Vertreter fremder Gro߬
mächte empfängt, und er wandelt auf dem Trottoir Arm in Arm mit dem
Vertreter eines einflußreichen Blattes, um für seine Maßregeln geneigtes
Urtheil zu finden. Und wieder gegenüber dieser bedrohlichen, unzuverlässigen,
reizbaren Macht der Tagesmeinung in der Hauptstadt sucht der Herr des
Ministers, der Kaiser selbst, sich einen anderen Richter. Er appellirt an die
Meinung der großen Masse, welche von dem Wellengeräusch der Presse, die
über ihren Köpfen wogt, noch wenig aufgeregt wird. Aber die Gewalten
der Tiefe, welche der Kaiser beschwört, werden zum großen Theil durch eine
andere geheime Macht regiert, durch die Priester der katholischen Kirche.
Gegen die treibende Unruhe und die Frivolität der Stadtbildung beschwört
der Kaiser als höhere Gewalt den Sinn der Millionen herauf, welche in der
Stille geleitet werden, oft ohne zu wissen, durch wen. Wir zweifeln nicht,
daß dem Kaiserreich wieder eine große Mehrzahl der Franzosen Recht geben
wird, wenn nicht mehr acht Millionen vielleicht doch sieben Millionen. Und
in einigen Jahren vielleicht sechs Millionen oder weniger. Eine solche ab¬
steigende Scala der Volksstimmen ist für die höchste Gewalt eines Staates,
welche doch zu einer Dynastie werden will, auf die Länge unmöglich, sie er¬
scheint uns Deutschen wie der Uebergang zur Republik, das heißt für Frank¬
reich zu einer Gewaltherrschaft der Stadt Paris über bevormundete Pro¬
vinzen in neuen Formen.

Sieht es doch aus, als sollten die Völker romanischer Sprache, denen
ihr leidenschaftliches Naturell und die Herrschaft der römischen Kirche die
Continuität einer starken Regierung nöthiger machen, als den Germanen, der
Reihe nach die Grundlagen eines monarchischen Staatslebens verlieren.
Spanien vermag keinen König zu finden, und das Haus Savoyen sühlt im
Frühjahr 1870 sich in seiner Herrschaft über Neapel und Sicilien unsicherer
als im Jahre 1866.

Ein lehrreiches Gegenbild zu den französischen Zuständen bieten die Ver¬
fassungskämpfe des östreichischen Kaiserstaats. Dort bindet ein altes Fürsten¬
geschlecht, uralte Zusammengehörigkeit und die reale Gewalt aller Verkehrs¬
interessen die Landestheile zu einer politischen Einheit zusammen. Dennoch ist
dort gegen den Widerstand der einzelnen Theile das allgemeine Stimmrecht
nicht einmal für die Wahl von Abgeordneten zum Reichstage durchzusetzen.
Wie die Ungarn fordern Polen und Czechen die despotische Herrschaft ihrer
Sprache und ihres Volksthums über die abgeneigten Bevölkerungstheile ihrer
Landschaft, und die Verhandlungen, welche das Ministerium Potocki in diesen
Tagen mit den trotzigen Parteiführern gepflogen hat, lassen sehr unsicher, ob
es dem Ministerium der Vermittelung gelingen wird, von Oestreich eine
Herrschaft der alt-conservativen Partei und ein zeitweiliges Zurückstauen auf


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/245>, abgerufen am 01.09.2024.