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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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So oft wir unser Dasein im neuen Großstaat mit dem anderer Nationen
vergleichen, empfinden wir fröhlich, daß wir keine von allen zu beneiden
Ursache haben. Selbst das reiche England nicht.

Dort imponirte uns in den letzten Wochen wieder ein Staats¬
haushalt, der wie spielend die großen Lasten für Heer und Flotte trägt,
eine Größe des Wohlstandes, die wir noch ein Jahrhundert entbehren
müssen, ein Haus der Abgeordneten, welches an große Geschäfte so gewöhnt
ist, daß es eine unentbehrliche Regierung nicht wegen 100.000 Pf. Se. Zoll¬
einnahmen in die GefaHr einer Niederlage setzt. Dagegen sind wir frei von
den Schwierigkeiten, welche die irischen Angelegenheiten dem englischen
Ministerium bereiten. Wir würden in den Grenzkreisen Posens und Jüt-
lands gegenwärtig Zustände für unerträglich halten, wie sie in dem größeren
Theil von Irland bestehen: ein durch Glauben und historische Ueberlieferung
der Idee des Staates abgeneigtes Volksthum, in welchem socialer Haß jede
Woche einen neuen politischen Mord verursacht, in welchem der Richter und
Geschworene terroristrt, der Meuchler durch die Theilnahme und Mitschuld
eines großen Theils der Bevölkerung ermuthigt wird. Jetzt endlich fühlt man
in England, daß die sociale Reform des Grundbesitzes, welche durch die Re¬
gierung betrieben wird, nicht nur eine Frage der Ehre, auch der politischen
Genesung geworden ist, und daß doch mehr als eine Generation sich aus¬
leben wird, bevor der feindliche Gegensatz der Völker, die Erbschaft von vier
Jahrhunderten innerer Kämpfe und Mißregierungen, getilgt werden kann.

Leidenschaftlicher und auf einen Tag gestellt, ist die innere Spannung
in Frankreich. Der alternde Kaiser hat noch einmal sein demokratisches
Rüstzeug herausgesucht, um sich und seiner Dynastie die nächste Zukunft zu
sichern. Nach 19 Jahren einer Regierung, welche reich an großen Reformen
und an glänzenden Erfolgen war, fordert er seine Franzosen, Mann für
Mann auf, darüber abzustimmen, ob sie mit seinem System, mit ihm und
seinem Hause zufrieden sind. Wir haben in den letzten beiden Decennien
Vieles in der Politik erlebt, was noch unsere Väter für ganz unmöglich
gehalten hätten, aber das Außerordentlichste von Allem ist doch wohl die
allgemeine Abstimmung über Leben und Werth einer Dynastie. Es ist sehr
wohlfeil, diese Abstimmung einen leeren theatralischen Coup zu nennen. Im
Gegentheil, es liegt ein furchtbarer Ernst darin. Dort in Frankreich kämpfen
weit andere Gewalten gegeneinander und gegen die Regierung, als bei uns.
Die öffentliche Meinung, wie sie sich in einer unruhigen, geistreichen, über¬
mächtigen Hauptstadt macht, und wie sie durch die Presse von abhängigen, ehr-
geizigen und parteisüchtigen Individuen verbreitet wird, ist dort die turbulente
Herrscherin des Tages. Dem leitenden Minister von Frankreich sind die Audienzen
mit den Journalisten von Paris und den Correspondenten fremder Zeitungen


So oft wir unser Dasein im neuen Großstaat mit dem anderer Nationen
vergleichen, empfinden wir fröhlich, daß wir keine von allen zu beneiden
Ursache haben. Selbst das reiche England nicht.

Dort imponirte uns in den letzten Wochen wieder ein Staats¬
haushalt, der wie spielend die großen Lasten für Heer und Flotte trägt,
eine Größe des Wohlstandes, die wir noch ein Jahrhundert entbehren
müssen, ein Haus der Abgeordneten, welches an große Geschäfte so gewöhnt
ist, daß es eine unentbehrliche Regierung nicht wegen 100.000 Pf. Se. Zoll¬
einnahmen in die GefaHr einer Niederlage setzt. Dagegen sind wir frei von
den Schwierigkeiten, welche die irischen Angelegenheiten dem englischen
Ministerium bereiten. Wir würden in den Grenzkreisen Posens und Jüt-
lands gegenwärtig Zustände für unerträglich halten, wie sie in dem größeren
Theil von Irland bestehen: ein durch Glauben und historische Ueberlieferung
der Idee des Staates abgeneigtes Volksthum, in welchem socialer Haß jede
Woche einen neuen politischen Mord verursacht, in welchem der Richter und
Geschworene terroristrt, der Meuchler durch die Theilnahme und Mitschuld
eines großen Theils der Bevölkerung ermuthigt wird. Jetzt endlich fühlt man
in England, daß die sociale Reform des Grundbesitzes, welche durch die Re¬
gierung betrieben wird, nicht nur eine Frage der Ehre, auch der politischen
Genesung geworden ist, und daß doch mehr als eine Generation sich aus¬
leben wird, bevor der feindliche Gegensatz der Völker, die Erbschaft von vier
Jahrhunderten innerer Kämpfe und Mißregierungen, getilgt werden kann.

Leidenschaftlicher und auf einen Tag gestellt, ist die innere Spannung
in Frankreich. Der alternde Kaiser hat noch einmal sein demokratisches
Rüstzeug herausgesucht, um sich und seiner Dynastie die nächste Zukunft zu
sichern. Nach 19 Jahren einer Regierung, welche reich an großen Reformen
und an glänzenden Erfolgen war, fordert er seine Franzosen, Mann für
Mann auf, darüber abzustimmen, ob sie mit seinem System, mit ihm und
seinem Hause zufrieden sind. Wir haben in den letzten beiden Decennien
Vieles in der Politik erlebt, was noch unsere Väter für ganz unmöglich
gehalten hätten, aber das Außerordentlichste von Allem ist doch wohl die
allgemeine Abstimmung über Leben und Werth einer Dynastie. Es ist sehr
wohlfeil, diese Abstimmung einen leeren theatralischen Coup zu nennen. Im
Gegentheil, es liegt ein furchtbarer Ernst darin. Dort in Frankreich kämpfen
weit andere Gewalten gegeneinander und gegen die Regierung, als bei uns.
Die öffentliche Meinung, wie sie sich in einer unruhigen, geistreichen, über¬
mächtigen Hauptstadt macht, und wie sie durch die Presse von abhängigen, ehr-
geizigen und parteisüchtigen Individuen verbreitet wird, ist dort die turbulente
Herrscherin des Tages. Dem leitenden Minister von Frankreich sind die Audienzen
mit den Journalisten von Paris und den Correspondenten fremder Zeitungen


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[0244] So oft wir unser Dasein im neuen Großstaat mit dem anderer Nationen vergleichen, empfinden wir fröhlich, daß wir keine von allen zu beneiden Ursache haben. Selbst das reiche England nicht. Dort imponirte uns in den letzten Wochen wieder ein Staats¬ haushalt, der wie spielend die großen Lasten für Heer und Flotte trägt, eine Größe des Wohlstandes, die wir noch ein Jahrhundert entbehren müssen, ein Haus der Abgeordneten, welches an große Geschäfte so gewöhnt ist, daß es eine unentbehrliche Regierung nicht wegen 100.000 Pf. Se. Zoll¬ einnahmen in die GefaHr einer Niederlage setzt. Dagegen sind wir frei von den Schwierigkeiten, welche die irischen Angelegenheiten dem englischen Ministerium bereiten. Wir würden in den Grenzkreisen Posens und Jüt- lands gegenwärtig Zustände für unerträglich halten, wie sie in dem größeren Theil von Irland bestehen: ein durch Glauben und historische Ueberlieferung der Idee des Staates abgeneigtes Volksthum, in welchem socialer Haß jede Woche einen neuen politischen Mord verursacht, in welchem der Richter und Geschworene terroristrt, der Meuchler durch die Theilnahme und Mitschuld eines großen Theils der Bevölkerung ermuthigt wird. Jetzt endlich fühlt man in England, daß die sociale Reform des Grundbesitzes, welche durch die Re¬ gierung betrieben wird, nicht nur eine Frage der Ehre, auch der politischen Genesung geworden ist, und daß doch mehr als eine Generation sich aus¬ leben wird, bevor der feindliche Gegensatz der Völker, die Erbschaft von vier Jahrhunderten innerer Kämpfe und Mißregierungen, getilgt werden kann. Leidenschaftlicher und auf einen Tag gestellt, ist die innere Spannung in Frankreich. Der alternde Kaiser hat noch einmal sein demokratisches Rüstzeug herausgesucht, um sich und seiner Dynastie die nächste Zukunft zu sichern. Nach 19 Jahren einer Regierung, welche reich an großen Reformen und an glänzenden Erfolgen war, fordert er seine Franzosen, Mann für Mann auf, darüber abzustimmen, ob sie mit seinem System, mit ihm und seinem Hause zufrieden sind. Wir haben in den letzten beiden Decennien Vieles in der Politik erlebt, was noch unsere Väter für ganz unmöglich gehalten hätten, aber das Außerordentlichste von Allem ist doch wohl die allgemeine Abstimmung über Leben und Werth einer Dynastie. Es ist sehr wohlfeil, diese Abstimmung einen leeren theatralischen Coup zu nennen. Im Gegentheil, es liegt ein furchtbarer Ernst darin. Dort in Frankreich kämpfen weit andere Gewalten gegeneinander und gegen die Regierung, als bei uns. Die öffentliche Meinung, wie sie sich in einer unruhigen, geistreichen, über¬ mächtigen Hauptstadt macht, und wie sie durch die Presse von abhängigen, ehr- geizigen und parteisüchtigen Individuen verbreitet wird, ist dort die turbulente Herrscherin des Tages. Dem leitenden Minister von Frankreich sind die Audienzen mit den Journalisten von Paris und den Correspondenten fremder Zeitungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/244>, abgerufen am 27.07.2024.