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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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für unstatthaft erklären, was selbst der Papst, der auf Unfehlbarkeit Anspruch
macht, für zulässig hält: die Appellation a xaxa male intormato aä xapam
melius intormanäum.

So ist das kaiserliche Wort zwar eine schroffe und zornige Abweisung
der Beschwerden der Livländer, aber es ändert trotz der verhängnißvollen
Form, die so viele Deutungen zuläßt, an dem staatsrechtlichen Verhältniß
der Provinzen zum Kaiser und zum Reich nichts. Die Rechtsansprüche der
Provinz bleiben nach wie vor dieselben; ja die Klage über Rechtsbruch und
. Verfassungsverletzung ist in gewissem Sinne durch die kaiserliche Antwort als
materiell begründet anerkannt; denn nur die formelle Berechtigung zur Klage
ist durch die Antwort in Abrede gestellt. Hätte man nachweisen können, daß
die Klagen unbegründet seien, man hätte es gethan. Auch der stolzeste
Souverän greift nur im äußersten Falle zur Berufung auf die Schranken-
lostgkeit seiner Gewalt.

So werden denn die Provinzen nach wie vor im Bewußtsein ihres
guten, durch nichts verscherzten Rechts die Trübsal, welche über sie herein¬
gebrochen ist, zu ertragen suchen und auch im Leiden ihre Treue bewähren.
Im Glauben daran, daß sie für eine gute und große Sache zu leiden haben,
lassen sie die Hoffnung nicht sinken, daß der Tag kommen wird, an welchem
der Kaiser das Treiben derer durchschaut, die ihr Verwüstungswerk mit seinem
Namen schützen.




Öffentliche Gesundheitspflege.

Das letzte Jahr hat den Bestrebungen zur Entwickelung der öffentlichen
Gesundheitspflege in Deutschland tüchtig vorwärts geholfen. Das erkennen
wir nicht allein an den Thatsachen, welche Prof. Reclam in der von ihm
redigirten Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege -- auch einem
Kinde des vorigen Jahres -- aus allen Abtheilungen des weiten Gebiets
aus 1869 zusammengestellt hat; wir constatiren es am eclatantesten nachdem
Verhalten der parlamentarischen Körperschaften zu diesem ganz neuen Anspruch
an ihre vielbeschäftigte Aufmerksamkeit und Fürsorge. Schon gegen Ende
des Jahres 1868 hatte der Niederrheinische Verein für öffentliche Gesundheits¬
pflege, aus dem Cholera-Ausschuß der Kölner Aerzte hervorgegangen und
mustergiltig für andere Provinzialverbände organisirt, den norddeutschen
Reichstag um seine Intervention angegangen. Aber die Petition fiel einem
Referenten in die Hände, der sich auf das Verstehen schlecht verstand. Er
las aus derselben die Aufforderung heraus, der Reichstag solle zwischen
Canalisation und Abfuhr die soviel bestrittene Entscheidung geben, während


für unstatthaft erklären, was selbst der Papst, der auf Unfehlbarkeit Anspruch
macht, für zulässig hält: die Appellation a xaxa male intormato aä xapam
melius intormanäum.

So ist das kaiserliche Wort zwar eine schroffe und zornige Abweisung
der Beschwerden der Livländer, aber es ändert trotz der verhängnißvollen
Form, die so viele Deutungen zuläßt, an dem staatsrechtlichen Verhältniß
der Provinzen zum Kaiser und zum Reich nichts. Die Rechtsansprüche der
Provinz bleiben nach wie vor dieselben; ja die Klage über Rechtsbruch und
. Verfassungsverletzung ist in gewissem Sinne durch die kaiserliche Antwort als
materiell begründet anerkannt; denn nur die formelle Berechtigung zur Klage
ist durch die Antwort in Abrede gestellt. Hätte man nachweisen können, daß
die Klagen unbegründet seien, man hätte es gethan. Auch der stolzeste
Souverän greift nur im äußersten Falle zur Berufung auf die Schranken-
lostgkeit seiner Gewalt.

So werden denn die Provinzen nach wie vor im Bewußtsein ihres
guten, durch nichts verscherzten Rechts die Trübsal, welche über sie herein¬
gebrochen ist, zu ertragen suchen und auch im Leiden ihre Treue bewähren.
Im Glauben daran, daß sie für eine gute und große Sache zu leiden haben,
lassen sie die Hoffnung nicht sinken, daß der Tag kommen wird, an welchem
der Kaiser das Treiben derer durchschaut, die ihr Verwüstungswerk mit seinem
Namen schützen.




Öffentliche Gesundheitspflege.

Das letzte Jahr hat den Bestrebungen zur Entwickelung der öffentlichen
Gesundheitspflege in Deutschland tüchtig vorwärts geholfen. Das erkennen
wir nicht allein an den Thatsachen, welche Prof. Reclam in der von ihm
redigirten Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege — auch einem
Kinde des vorigen Jahres — aus allen Abtheilungen des weiten Gebiets
aus 1869 zusammengestellt hat; wir constatiren es am eclatantesten nachdem
Verhalten der parlamentarischen Körperschaften zu diesem ganz neuen Anspruch
an ihre vielbeschäftigte Aufmerksamkeit und Fürsorge. Schon gegen Ende
des Jahres 1868 hatte der Niederrheinische Verein für öffentliche Gesundheits¬
pflege, aus dem Cholera-Ausschuß der Kölner Aerzte hervorgegangen und
mustergiltig für andere Provinzialverbände organisirt, den norddeutschen
Reichstag um seine Intervention angegangen. Aber die Petition fiel einem
Referenten in die Hände, der sich auf das Verstehen schlecht verstand. Er
las aus derselben die Aufforderung heraus, der Reichstag solle zwischen
Canalisation und Abfuhr die soviel bestrittene Entscheidung geben, während


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/203>, abgerufen am 27.07.2024.