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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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ist, vogelfrei erklärt seien. Nun wird, so hofft er in innigem Einverständniß
mit Herrn Leontjev, kein Unterschied mehr sein zwischen Livland und Polen.
Und was Moskau so lange predigte, daß schon das Wort "Privilegium" ein
Attentat gegen die souveräne Gewalt sei, das glauben die Fanatiker der
Nationalität auch den Worten des Monarchen unterschieben zu dürfen. In
ihren Augen ist nun auch das letzte Bollwerk, auf welches die Livländer so
zuversichtlich vertrauten, gewichen; nun kann sich der russische Geist ungehemmt
über das Gestade der Ostsee ergießen und das verhaßte deutsche Wesen
und Leben fortspülen. So wird er seine höchste Mission erfüllen.

Und die Deutschen in den Ostseeprovinzen? Sollen sie die Interpreta¬
tion acceptiren, welche der Golos von der kaiserlichen Antwort gibt, und
während die Demagogie aus den Straßen und in den Ministerien über die
Proclamation der Rechtlosigkeit Livlands jauchzt, über ihren politischen Tod
wehklagen? Sollen sie sich überreden lassen, der Kaiser habe durch sein Wort
die Meinung der russischen Radicalen, wie sie in der bekannten "Antwort
auf die livländische Antwort" zu Tage.tritt, gerechtfertigt und ihnen zugestimmt,
wenn sie sagen, "die selbstherrschende Monarchie ist gegründet auf Nicht¬
anerkennung der menschlichen Rechte; das ist für sie eonäitiv sine <ZM von"
(S. 4.)? Sollen die Deutschen aus dem Kaiserwort wirklich herauslesen,
daß in Rußland kein Recht mehr heilig und unantastbar ist. weil ein Kaiser
regiert?

Mag der äußere Wortlaut der Antwort solche Deutungen von Seiten
der Bosheit und des Hasses möglich erscheinen lassen; mag zeitweilig und
für lange noch den Provinzen mit Berufung auf die souveräne Geroalt der
Rechtsschutz versagt und das Theuerste, was sie besitzen, der Vergewaltigung
durch Minister und Beamte Preis gegeben werden: der Deutsche ist außer
Stande, den Gedanken einer absolut rechtlosen politischen Existenz zu ertragen
und seinem Kaiser zuzutrauen, er wolle seiner souveränes eine solche Aus¬
dehnung geben, daß sie auch durch Verträge, die sie geschlossen, und durch
eigene Zusagen und Versprechungen nicht mehr gebunden sein sollte.

Wenn die Souveränität des Kaisers in Rußland Quelle des Rechts
ist, so kann sie, nach deutschem Verständniß, nicht zugleich die Ursache allge¬
meiner Rechtlosigkeit sein. Mögen die Gesetze ihre Kraft der selbstherrschenden
Gewalt entnehmen: das Recht hat seinen Ursprung in keinem menschlichen
Willen, sondern in der göttlichen Weltordnung. Es widerspricht nicht dem
monarchischen Prinzip, daß der Kaiser Vieles von dem, was mit seiner
Sanction geschehen ist, bei erneuter Prüfung für eine Verletzung unantastbarer
Rechte erklärt. Es muß gestattet bleiben über den Kaiser beim Kaiser zu
klagen, sonst wäre die absolute Monarchie in Despotie umgewandelt. Und
das ist nie und nimmer die Tendenz dieses Monarchen. Er wird sicher nicht


ist, vogelfrei erklärt seien. Nun wird, so hofft er in innigem Einverständniß
mit Herrn Leontjev, kein Unterschied mehr sein zwischen Livland und Polen.
Und was Moskau so lange predigte, daß schon das Wort „Privilegium" ein
Attentat gegen die souveräne Gewalt sei, das glauben die Fanatiker der
Nationalität auch den Worten des Monarchen unterschieben zu dürfen. In
ihren Augen ist nun auch das letzte Bollwerk, auf welches die Livländer so
zuversichtlich vertrauten, gewichen; nun kann sich der russische Geist ungehemmt
über das Gestade der Ostsee ergießen und das verhaßte deutsche Wesen
und Leben fortspülen. So wird er seine höchste Mission erfüllen.

Und die Deutschen in den Ostseeprovinzen? Sollen sie die Interpreta¬
tion acceptiren, welche der Golos von der kaiserlichen Antwort gibt, und
während die Demagogie aus den Straßen und in den Ministerien über die
Proclamation der Rechtlosigkeit Livlands jauchzt, über ihren politischen Tod
wehklagen? Sollen sie sich überreden lassen, der Kaiser habe durch sein Wort
die Meinung der russischen Radicalen, wie sie in der bekannten „Antwort
auf die livländische Antwort" zu Tage.tritt, gerechtfertigt und ihnen zugestimmt,
wenn sie sagen, „die selbstherrschende Monarchie ist gegründet auf Nicht¬
anerkennung der menschlichen Rechte; das ist für sie eonäitiv sine <ZM von"
(S. 4.)? Sollen die Deutschen aus dem Kaiserwort wirklich herauslesen,
daß in Rußland kein Recht mehr heilig und unantastbar ist. weil ein Kaiser
regiert?

Mag der äußere Wortlaut der Antwort solche Deutungen von Seiten
der Bosheit und des Hasses möglich erscheinen lassen; mag zeitweilig und
für lange noch den Provinzen mit Berufung auf die souveräne Geroalt der
Rechtsschutz versagt und das Theuerste, was sie besitzen, der Vergewaltigung
durch Minister und Beamte Preis gegeben werden: der Deutsche ist außer
Stande, den Gedanken einer absolut rechtlosen politischen Existenz zu ertragen
und seinem Kaiser zuzutrauen, er wolle seiner souveränes eine solche Aus¬
dehnung geben, daß sie auch durch Verträge, die sie geschlossen, und durch
eigene Zusagen und Versprechungen nicht mehr gebunden sein sollte.

Wenn die Souveränität des Kaisers in Rußland Quelle des Rechts
ist, so kann sie, nach deutschem Verständniß, nicht zugleich die Ursache allge¬
meiner Rechtlosigkeit sein. Mögen die Gesetze ihre Kraft der selbstherrschenden
Gewalt entnehmen: das Recht hat seinen Ursprung in keinem menschlichen
Willen, sondern in der göttlichen Weltordnung. Es widerspricht nicht dem
monarchischen Prinzip, daß der Kaiser Vieles von dem, was mit seiner
Sanction geschehen ist, bei erneuter Prüfung für eine Verletzung unantastbarer
Rechte erklärt. Es muß gestattet bleiben über den Kaiser beim Kaiser zu
klagen, sonst wäre die absolute Monarchie in Despotie umgewandelt. Und
das ist nie und nimmer die Tendenz dieses Monarchen. Er wird sicher nicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/202>, abgerufen am 01.09.2024.