Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Sprache erscheinen --- war er mehr denn je überzeugt, daß, wie tief auch die
Schmach von Straßburg brenne, das Reich in seiner trostlosen Verfassung
den Krieg mit Frankreich nicht aufzunehmen im Stande sei. Der erregte
Patriot wird jetzt wieder vom kalt rechnenden Staatsmann abgelöst. Klaren
Blicks hatte er die Schäden im ersten Krieg erkannt: auf der einen Seite
der große umsichtige König, rasch entschlossen, die geheimgehaltenen Pläne
auszuführen, auf der anderen Gegner, die ohne gerüstet zu sein, in den Tag
hinein in den Krieg gehen, ohne Schatz, ohne Lebensmittel, ohne Plan, ohne
geübte Soldaten, schläfrig, lahm in der Ausführung; eigensinnig die einen,
unbeständig die anderen, alle aber zwieträchtig -- kurz wie wenn ein unge¬
schlachter Riese kämpft mit einem geübten Fechter von Fach. Diese Erfah¬
rungen, dann der Hader der Bekenntnisse, die durch Oestreichs Glaubens¬
verfolgung zum Aufstand getriebenen Ungarn, die durch sie und Frankreichs
Unterstützung herbeigerufenen Türken, die 1683 bis vor die Thore Wiens
dringen, endlich die Verstimmung des Kurfürsten von Brandenburg, der sich
als von Kaiser und Reich schnöde verlassen grollend zurückzog, -- alles dies
machte, daß Leibniz im Widerspruch mit seinen letzten Schriften sich genöthigt
sah, zum Aecommodement mit Frankreich zu rathen, um bessere Zeiten ab¬
zuwarten. Leibniz sieht jetzt geradezu die Gefahr eines völligen Untergangs
des Reichs und das ist ihm der oberste Gesichtspunkt. "Um in dieser Frage
richtig zu denken, um sich keine Gewissensvorwürfe hinterher machen zu müssen,
um der Pflicht gegen das Vaterland, die Ehre, die Freundschaft zu genügen,
darf man sich weder schmeicheln, noch der Entmuthigung Raum geben, die
wahren Gründe von Furcht und Hoffnung durch eine voreingenommene Ein¬
bildungskraft weder übertreiben noch unterschätzen; mit einem Wort, man
braucht einen Augenblick völliger Geistes- und Gemüthsruhe, um nur und
allein auf die Stimme der Vernunft zu hören." In dieser Stimmung nun
-- weder aufgeregt noch niedergeschlagen -- schreibt er die Lionsultatioll
touekemt ig, Zusrre on l'aceomoäkment g>vo<z ig. ^z-eines. eine höchst merk¬
würdige Schrift, weil sie eben mit klarsten Bewußtsein den undankbaren
Standpunkt des kalten Diplomaten gegen die berechtigte Erregung des Pa¬
triotismus vertritt. Denn der Krieg ist gerecht, die Ehre wie das Interesse
der Selbsterhaltung verlangen ihn gleichmäßig. Aber die Frage ist in dieser
höchsten Gefahr die. ob es besser sei, sofort mit Frankreich zu brechen oder
steh auseinanderzusetzen und die Abrechnung für günstigere Zeiten aufzusparen.
"So schwer es einem edlen Gemüth fallen muß. sich unter die Ungunst der
Verhältnisse zu beugen und unwürdige Beleidigungen. Hohn und Uebermuth
hinzunehmen, so schwer der Widerstreit zwischen Edelsinn und Vernunft sein
wäg, so muß man eben doch schließlich auf die Stimme des Gewissens und
Gottes hören. Es ist nicht zu entschuldigen, sich und den Staat ins Ver-


Sprache erscheinen —- war er mehr denn je überzeugt, daß, wie tief auch die
Schmach von Straßburg brenne, das Reich in seiner trostlosen Verfassung
den Krieg mit Frankreich nicht aufzunehmen im Stande sei. Der erregte
Patriot wird jetzt wieder vom kalt rechnenden Staatsmann abgelöst. Klaren
Blicks hatte er die Schäden im ersten Krieg erkannt: auf der einen Seite
der große umsichtige König, rasch entschlossen, die geheimgehaltenen Pläne
auszuführen, auf der anderen Gegner, die ohne gerüstet zu sein, in den Tag
hinein in den Krieg gehen, ohne Schatz, ohne Lebensmittel, ohne Plan, ohne
geübte Soldaten, schläfrig, lahm in der Ausführung; eigensinnig die einen,
unbeständig die anderen, alle aber zwieträchtig — kurz wie wenn ein unge¬
schlachter Riese kämpft mit einem geübten Fechter von Fach. Diese Erfah¬
rungen, dann der Hader der Bekenntnisse, die durch Oestreichs Glaubens¬
verfolgung zum Aufstand getriebenen Ungarn, die durch sie und Frankreichs
Unterstützung herbeigerufenen Türken, die 1683 bis vor die Thore Wiens
dringen, endlich die Verstimmung des Kurfürsten von Brandenburg, der sich
als von Kaiser und Reich schnöde verlassen grollend zurückzog, — alles dies
machte, daß Leibniz im Widerspruch mit seinen letzten Schriften sich genöthigt
sah, zum Aecommodement mit Frankreich zu rathen, um bessere Zeiten ab¬
zuwarten. Leibniz sieht jetzt geradezu die Gefahr eines völligen Untergangs
des Reichs und das ist ihm der oberste Gesichtspunkt. „Um in dieser Frage
richtig zu denken, um sich keine Gewissensvorwürfe hinterher machen zu müssen,
um der Pflicht gegen das Vaterland, die Ehre, die Freundschaft zu genügen,
darf man sich weder schmeicheln, noch der Entmuthigung Raum geben, die
wahren Gründe von Furcht und Hoffnung durch eine voreingenommene Ein¬
bildungskraft weder übertreiben noch unterschätzen; mit einem Wort, man
braucht einen Augenblick völliger Geistes- und Gemüthsruhe, um nur und
allein auf die Stimme der Vernunft zu hören." In dieser Stimmung nun
— weder aufgeregt noch niedergeschlagen — schreibt er die Lionsultatioll
touekemt ig, Zusrre on l'aceomoäkment g>vo<z ig. ^z-eines. eine höchst merk¬
würdige Schrift, weil sie eben mit klarsten Bewußtsein den undankbaren
Standpunkt des kalten Diplomaten gegen die berechtigte Erregung des Pa¬
triotismus vertritt. Denn der Krieg ist gerecht, die Ehre wie das Interesse
der Selbsterhaltung verlangen ihn gleichmäßig. Aber die Frage ist in dieser
höchsten Gefahr die. ob es besser sei, sofort mit Frankreich zu brechen oder
steh auseinanderzusetzen und die Abrechnung für günstigere Zeiten aufzusparen.
"So schwer es einem edlen Gemüth fallen muß. sich unter die Ungunst der
Verhältnisse zu beugen und unwürdige Beleidigungen. Hohn und Uebermuth
hinzunehmen, so schwer der Widerstreit zwischen Edelsinn und Vernunft sein
wäg, so muß man eben doch schließlich auf die Stimme des Gewissens und
Gottes hören. Es ist nicht zu entschuldigen, sich und den Staat ins Ver-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0019" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/123639"/>
          <p xml:id="ID_35" prev="#ID_34" next="#ID_36"> Sprache erscheinen &#x2014;- war er mehr denn je überzeugt, daß, wie tief auch die<lb/>
Schmach von Straßburg brenne, das Reich in seiner trostlosen Verfassung<lb/>
den Krieg mit Frankreich nicht aufzunehmen im Stande sei. Der erregte<lb/>
Patriot wird jetzt wieder vom kalt rechnenden Staatsmann abgelöst. Klaren<lb/>
Blicks hatte er die Schäden im ersten Krieg erkannt: auf der einen Seite<lb/>
der große umsichtige König, rasch entschlossen, die geheimgehaltenen Pläne<lb/>
auszuführen, auf der anderen Gegner, die ohne gerüstet zu sein, in den Tag<lb/>
hinein in den Krieg gehen, ohne Schatz, ohne Lebensmittel, ohne Plan, ohne<lb/>
geübte Soldaten, schläfrig, lahm in der Ausführung; eigensinnig die einen,<lb/>
unbeständig die anderen, alle aber zwieträchtig &#x2014; kurz wie wenn ein unge¬<lb/>
schlachter Riese kämpft mit einem geübten Fechter von Fach. Diese Erfah¬<lb/>
rungen, dann der Hader der Bekenntnisse, die durch Oestreichs Glaubens¬<lb/>
verfolgung zum Aufstand getriebenen Ungarn, die durch sie und Frankreichs<lb/>
Unterstützung herbeigerufenen Türken, die 1683 bis vor die Thore Wiens<lb/>
dringen, endlich die Verstimmung des Kurfürsten von Brandenburg, der sich<lb/>
als von Kaiser und Reich schnöde verlassen grollend zurückzog, &#x2014; alles dies<lb/>
machte, daß Leibniz im Widerspruch mit seinen letzten Schriften sich genöthigt<lb/>
sah, zum Aecommodement mit Frankreich zu rathen, um bessere Zeiten ab¬<lb/>
zuwarten. Leibniz sieht jetzt geradezu die Gefahr eines völligen Untergangs<lb/>
des Reichs und das ist ihm der oberste Gesichtspunkt. &#x201E;Um in dieser Frage<lb/>
richtig zu denken, um sich keine Gewissensvorwürfe hinterher machen zu müssen,<lb/>
um der Pflicht gegen das Vaterland, die Ehre, die Freundschaft zu genügen,<lb/>
darf man sich weder schmeicheln, noch der Entmuthigung Raum geben, die<lb/>
wahren Gründe von Furcht und Hoffnung durch eine voreingenommene Ein¬<lb/>
bildungskraft weder übertreiben noch unterschätzen; mit einem Wort, man<lb/>
braucht einen Augenblick völliger Geistes- und Gemüthsruhe, um nur und<lb/>
allein auf die Stimme der Vernunft zu hören." In dieser Stimmung nun<lb/>
&#x2014; weder aufgeregt noch niedergeschlagen &#x2014; schreibt er die Lionsultatioll<lb/>
touekemt ig, Zusrre on l'aceomoäkment g&gt;vo&lt;z ig. ^z-eines. eine höchst merk¬<lb/>
würdige Schrift, weil sie eben mit klarsten Bewußtsein den undankbaren<lb/>
Standpunkt des kalten Diplomaten gegen die berechtigte Erregung des Pa¬<lb/>
triotismus vertritt. Denn der Krieg ist gerecht, die Ehre wie das Interesse<lb/>
der Selbsterhaltung verlangen ihn gleichmäßig. Aber die Frage ist in dieser<lb/>
höchsten Gefahr die. ob es besser sei, sofort mit Frankreich zu brechen oder<lb/>
steh auseinanderzusetzen und die Abrechnung für günstigere Zeiten aufzusparen.<lb/>
"So schwer es einem edlen Gemüth fallen muß. sich unter die Ungunst der<lb/>
Verhältnisse zu beugen und unwürdige Beleidigungen. Hohn und Uebermuth<lb/>
hinzunehmen, so schwer der Widerstreit zwischen Edelsinn und Vernunft sein<lb/>
wäg, so muß man eben doch schließlich auf die Stimme des Gewissens und<lb/>
Gottes hören. Es ist nicht zu entschuldigen, sich und den Staat ins Ver-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0019] Sprache erscheinen —- war er mehr denn je überzeugt, daß, wie tief auch die Schmach von Straßburg brenne, das Reich in seiner trostlosen Verfassung den Krieg mit Frankreich nicht aufzunehmen im Stande sei. Der erregte Patriot wird jetzt wieder vom kalt rechnenden Staatsmann abgelöst. Klaren Blicks hatte er die Schäden im ersten Krieg erkannt: auf der einen Seite der große umsichtige König, rasch entschlossen, die geheimgehaltenen Pläne auszuführen, auf der anderen Gegner, die ohne gerüstet zu sein, in den Tag hinein in den Krieg gehen, ohne Schatz, ohne Lebensmittel, ohne Plan, ohne geübte Soldaten, schläfrig, lahm in der Ausführung; eigensinnig die einen, unbeständig die anderen, alle aber zwieträchtig — kurz wie wenn ein unge¬ schlachter Riese kämpft mit einem geübten Fechter von Fach. Diese Erfah¬ rungen, dann der Hader der Bekenntnisse, die durch Oestreichs Glaubens¬ verfolgung zum Aufstand getriebenen Ungarn, die durch sie und Frankreichs Unterstützung herbeigerufenen Türken, die 1683 bis vor die Thore Wiens dringen, endlich die Verstimmung des Kurfürsten von Brandenburg, der sich als von Kaiser und Reich schnöde verlassen grollend zurückzog, — alles dies machte, daß Leibniz im Widerspruch mit seinen letzten Schriften sich genöthigt sah, zum Aecommodement mit Frankreich zu rathen, um bessere Zeiten ab¬ zuwarten. Leibniz sieht jetzt geradezu die Gefahr eines völligen Untergangs des Reichs und das ist ihm der oberste Gesichtspunkt. „Um in dieser Frage richtig zu denken, um sich keine Gewissensvorwürfe hinterher machen zu müssen, um der Pflicht gegen das Vaterland, die Ehre, die Freundschaft zu genügen, darf man sich weder schmeicheln, noch der Entmuthigung Raum geben, die wahren Gründe von Furcht und Hoffnung durch eine voreingenommene Ein¬ bildungskraft weder übertreiben noch unterschätzen; mit einem Wort, man braucht einen Augenblick völliger Geistes- und Gemüthsruhe, um nur und allein auf die Stimme der Vernunft zu hören." In dieser Stimmung nun — weder aufgeregt noch niedergeschlagen — schreibt er die Lionsultatioll touekemt ig, Zusrre on l'aceomoäkment g>vo<z ig. ^z-eines. eine höchst merk¬ würdige Schrift, weil sie eben mit klarsten Bewußtsein den undankbaren Standpunkt des kalten Diplomaten gegen die berechtigte Erregung des Pa¬ triotismus vertritt. Denn der Krieg ist gerecht, die Ehre wie das Interesse der Selbsterhaltung verlangen ihn gleichmäßig. Aber die Frage ist in dieser höchsten Gefahr die. ob es besser sei, sofort mit Frankreich zu brechen oder steh auseinanderzusetzen und die Abrechnung für günstigere Zeiten aufzusparen. "So schwer es einem edlen Gemüth fallen muß. sich unter die Ungunst der Verhältnisse zu beugen und unwürdige Beleidigungen. Hohn und Uebermuth hinzunehmen, so schwer der Widerstreit zwischen Edelsinn und Vernunft sein wäg, so muß man eben doch schließlich auf die Stimme des Gewissens und Gottes hören. Es ist nicht zu entschuldigen, sich und den Staat ins Ver-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/19
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/19>, abgerufen am 18.12.2024.