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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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Harmonie zu ändern. Im Septimenaccord ist die Consonanz aufgehoben und
muß in der Auflösung erst wieder erstehen; es ist das Werden der Con¬
sonanz hier das Bedeutende und vom Alter unterscheidende Moment: die
vermittelte Consonanz; dort bleibt sie die unmittelbare. Es hat jedes Ding
in seiner Vollendung sein Christenthum in sich, wo es heißen muß "durch
Kreuz zum Licht". Und es muß überall eine Scheidung eintreten, wenn die
höhere Einheit, die Einheit der Verbindung, der Einigkeit soll resulttren
können. So eben auch in der sogenannten Form des Musikstückes, in der
sich auch bei der alten Musik noch keine Trennung findet; sie geht in un¬
mittelbarer Einheit fort; die neue verbindet getrenntes und hat vermittelte
Einheit. Es ist nicht der Mangel an Dissonanz, aber der Mangel am Be -
wußtwerden der Consonanz in der Harmonie und im architectonischen
Bau der alten Musik, was wir auf die Länge ungenügend an ihr empfinden.
Es ist nur das Licht da, das Kreuz fehlt. Aber mein Brief wird wie ein
Schulprogramm zu einem Festactus, wo auch in der Rede immer von etwas
ganz anderm die Rede ist, als vom Feste des Tages; denn das Vorstehende
hängt doch nur locker zusammen mit Ihrer Reise und nur mit einem Punkte
derselben.....


M. H.

An L. Köhlerin Königsberg.

Leipzig, 27. April 1853.


Geehrtester Herr Köhler!

. . . Das fortgesetzte Interesse, was Sie meinem Buche zuwenden,
kann mich nur sehr freuen . . . Wie Sie die Dinge gesund betrachten, würde
auch Ihr Weg zum Ziele führen und der Gefährte an Ihnen leicht einen
leichtverständlicheren Führer haben. Die Wahrheit ist zu einfach, um leicht¬
verständlich ausgesprochen zu werden. Der einfachste Ausspruch wird zwei¬
deutig, es muß ihm wieder abgenommen, wieder hinzugesetzt werden, ins Un-
endliche fort, wenn er der Wahrheit nahe kommen soll. -- Sie fragen, ob
ich die Schüler nach meinem System unterrichte. Ich kann Ja und Nein
sagen -- exxlieiw geschieht es nicht, wohl aber implicite, wie ich auch nicht
anders könnte. In einzelnen Fällen zeigt sich wohl auch bei dem Schüler
das Verlangen, Gründlicheres zu wissen, mit diesem gehe ich dann etwas
näher auf das Princip ein, aber nicht über sein Bedürfniß: es nimmt Einer
gerade nur so viel auf als er selbst dazu bringt; was man darüber gibt,
geht nur ins Ohr, nicht in die Seele, es findet keinen Boden, fortzuwachsen.
Wenn ich aber von einzelnen Intervallen sprechen müßte, von Zweiklängen,
consonanten und dissonanten, und von der Auflösung der letzteren, bevor


Harmonie zu ändern. Im Septimenaccord ist die Consonanz aufgehoben und
muß in der Auflösung erst wieder erstehen; es ist das Werden der Con¬
sonanz hier das Bedeutende und vom Alter unterscheidende Moment: die
vermittelte Consonanz; dort bleibt sie die unmittelbare. Es hat jedes Ding
in seiner Vollendung sein Christenthum in sich, wo es heißen muß „durch
Kreuz zum Licht". Und es muß überall eine Scheidung eintreten, wenn die
höhere Einheit, die Einheit der Verbindung, der Einigkeit soll resulttren
können. So eben auch in der sogenannten Form des Musikstückes, in der
sich auch bei der alten Musik noch keine Trennung findet; sie geht in un¬
mittelbarer Einheit fort; die neue verbindet getrenntes und hat vermittelte
Einheit. Es ist nicht der Mangel an Dissonanz, aber der Mangel am Be -
wußtwerden der Consonanz in der Harmonie und im architectonischen
Bau der alten Musik, was wir auf die Länge ungenügend an ihr empfinden.
Es ist nur das Licht da, das Kreuz fehlt. Aber mein Brief wird wie ein
Schulprogramm zu einem Festactus, wo auch in der Rede immer von etwas
ganz anderm die Rede ist, als vom Feste des Tages; denn das Vorstehende
hängt doch nur locker zusammen mit Ihrer Reise und nur mit einem Punkte
derselben.....


M. H.

An L. Köhlerin Königsberg.

Leipzig, 27. April 1853.


Geehrtester Herr Köhler!

. . . Das fortgesetzte Interesse, was Sie meinem Buche zuwenden,
kann mich nur sehr freuen . . . Wie Sie die Dinge gesund betrachten, würde
auch Ihr Weg zum Ziele führen und der Gefährte an Ihnen leicht einen
leichtverständlicheren Führer haben. Die Wahrheit ist zu einfach, um leicht¬
verständlich ausgesprochen zu werden. Der einfachste Ausspruch wird zwei¬
deutig, es muß ihm wieder abgenommen, wieder hinzugesetzt werden, ins Un-
endliche fort, wenn er der Wahrheit nahe kommen soll. — Sie fragen, ob
ich die Schüler nach meinem System unterrichte. Ich kann Ja und Nein
sagen — exxlieiw geschieht es nicht, wohl aber implicite, wie ich auch nicht
anders könnte. In einzelnen Fällen zeigt sich wohl auch bei dem Schüler
das Verlangen, Gründlicheres zu wissen, mit diesem gehe ich dann etwas
näher auf das Princip ein, aber nicht über sein Bedürfniß: es nimmt Einer
gerade nur so viel auf als er selbst dazu bringt; was man darüber gibt,
geht nur ins Ohr, nicht in die Seele, es findet keinen Boden, fortzuwachsen.
Wenn ich aber von einzelnen Intervallen sprechen müßte, von Zweiklängen,
consonanten und dissonanten, und von der Auflösung der letzteren, bevor


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[0158] Harmonie zu ändern. Im Septimenaccord ist die Consonanz aufgehoben und muß in der Auflösung erst wieder erstehen; es ist das Werden der Con¬ sonanz hier das Bedeutende und vom Alter unterscheidende Moment: die vermittelte Consonanz; dort bleibt sie die unmittelbare. Es hat jedes Ding in seiner Vollendung sein Christenthum in sich, wo es heißen muß „durch Kreuz zum Licht". Und es muß überall eine Scheidung eintreten, wenn die höhere Einheit, die Einheit der Verbindung, der Einigkeit soll resulttren können. So eben auch in der sogenannten Form des Musikstückes, in der sich auch bei der alten Musik noch keine Trennung findet; sie geht in un¬ mittelbarer Einheit fort; die neue verbindet getrenntes und hat vermittelte Einheit. Es ist nicht der Mangel an Dissonanz, aber der Mangel am Be - wußtwerden der Consonanz in der Harmonie und im architectonischen Bau der alten Musik, was wir auf die Länge ungenügend an ihr empfinden. Es ist nur das Licht da, das Kreuz fehlt. Aber mein Brief wird wie ein Schulprogramm zu einem Festactus, wo auch in der Rede immer von etwas ganz anderm die Rede ist, als vom Feste des Tages; denn das Vorstehende hängt doch nur locker zusammen mit Ihrer Reise und nur mit einem Punkte derselben..... M. H. An L. Köhlerin Königsberg. Leipzig, 27. April 1853. Geehrtester Herr Köhler! . . . Das fortgesetzte Interesse, was Sie meinem Buche zuwenden, kann mich nur sehr freuen . . . Wie Sie die Dinge gesund betrachten, würde auch Ihr Weg zum Ziele führen und der Gefährte an Ihnen leicht einen leichtverständlicheren Führer haben. Die Wahrheit ist zu einfach, um leicht¬ verständlich ausgesprochen zu werden. Der einfachste Ausspruch wird zwei¬ deutig, es muß ihm wieder abgenommen, wieder hinzugesetzt werden, ins Un- endliche fort, wenn er der Wahrheit nahe kommen soll. — Sie fragen, ob ich die Schüler nach meinem System unterrichte. Ich kann Ja und Nein sagen — exxlieiw geschieht es nicht, wohl aber implicite, wie ich auch nicht anders könnte. In einzelnen Fällen zeigt sich wohl auch bei dem Schüler das Verlangen, Gründlicheres zu wissen, mit diesem gehe ich dann etwas näher auf das Princip ein, aber nicht über sein Bedürfniß: es nimmt Einer gerade nur so viel auf als er selbst dazu bringt; was man darüber gibt, geht nur ins Ohr, nicht in die Seele, es findet keinen Boden, fortzuwachsen. Wenn ich aber von einzelnen Intervallen sprechen müßte, von Zweiklängen, consonanten und dissonanten, und von der Auflösung der letzteren, bevor

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/158>, abgerufen am 01.09.2024.