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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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etwas Erträgliches sehen". -- Jenen organischen Zusammenhang hat unser
körperliches Innere auch, die Natur hat sich aber nicht begnügt, diesem Innern
eine angepaßte Hülle zu geben zum Abschluß gegen die Außenwelt und das
für eine Gestalt gelten lassen zu wollen; sie hat dem unsymmetrischen Innern
ein symmetrisches Aeußeres gegeben. Der Architekt läßt nicht durch das innere
öconomische Bedürfniß allein seine Faxade bestimmen, macht hier oder dort
ein Fenster, hier einen Vorsprung, dort eine Vertiefung, wie es, durch das
Aeußere unmotivirt, sich durch das Innere vielleicht zweckmäßig ergeben
würde. (Wiewohl man an mittelalterlichen Bauten, wo sie vorkommen,
eben solche Irregularitäten wohl als romantisch reizvoll gerade rühmen hört,
was sie auch sein können, wenn man das nicht mit Schönheit verwechselt,
die überhaupt den Reiz sehr unterordnet --). Er gibt "uns ein selbständiges
Aeußeres, das den Charakter des Innern im Ganzen trägt und ausspricht,
eine metrische Fassung für die rhythmischen Vorgänge des Innern. Wie
es die Natur thut bei den animalischen Gestalten, die etwas Höheres sind
als die gewiß sehr reizvollen vegetabilischen, die nur Rhythmus, aber kein
Metrum haben, in denen nur Fortgang, aber kein Zurückgang in sich selbst,
keine Abgeschlossenheit ist, deren Gefühl nicht zu Verstände kommt, daß
Selbstanschauung, Vernunft daraus werden könnte.


M. H.

Leipzig, den 31. October 1865.


Lieber Wehner!

. . Daß Sie sich mit Rossini (in Paris) so gut befunden haben, freut
mich sehr und ich kann mirs denken. Der ist immer so rund und es ist bei
ihm immer geworden, was er machen wollte; da muß man sehr weit zurück¬
gehen, wenn man irgend etwas noch Unfertiges finden will. Sehr bald ist
dann alles wie gewachsen. Nach Geschriebenen klingt es nun gleich gar
nicht, oder es geht doch auf dem Wege durch den Schreibarm von der Un¬
mittelbarkeit des Gedankens nicht das Mindeste verloren. Was ists. auch
bei besseren deutschen Componisten. oft für eine Mühseligkeit, zu überwinden,
was sie hineingearbeitet haben. Man möchte, wenn sie so viele Wochen an
einer Composition zugebracht, ihnen so viel Monate noch zurathen, die Arbeit
wieder herauszuarbeiten, daß es wenigstens schiene, als wärs ihnen nicht
sauer geworden. Wo kommt bei Rossini wohl etwas vor, wo Factur zu
überwinden wär; und doch ist sie oft sehr bedeutend da -- es ist aber dann
nicht Contrapunkt zu einem vautus örmus, nicht Hinzu- oder Entgegengesetztes,
sondern der Gegensatz selbst ist es, der als Eins hervorgegangen ist und in
der Einheit wirkt. In Webers Biographie kommt es recht viel vor, wie er


etwas Erträgliches sehen". — Jenen organischen Zusammenhang hat unser
körperliches Innere auch, die Natur hat sich aber nicht begnügt, diesem Innern
eine angepaßte Hülle zu geben zum Abschluß gegen die Außenwelt und das
für eine Gestalt gelten lassen zu wollen; sie hat dem unsymmetrischen Innern
ein symmetrisches Aeußeres gegeben. Der Architekt läßt nicht durch das innere
öconomische Bedürfniß allein seine Faxade bestimmen, macht hier oder dort
ein Fenster, hier einen Vorsprung, dort eine Vertiefung, wie es, durch das
Aeußere unmotivirt, sich durch das Innere vielleicht zweckmäßig ergeben
würde. (Wiewohl man an mittelalterlichen Bauten, wo sie vorkommen,
eben solche Irregularitäten wohl als romantisch reizvoll gerade rühmen hört,
was sie auch sein können, wenn man das nicht mit Schönheit verwechselt,
die überhaupt den Reiz sehr unterordnet —). Er gibt «uns ein selbständiges
Aeußeres, das den Charakter des Innern im Ganzen trägt und ausspricht,
eine metrische Fassung für die rhythmischen Vorgänge des Innern. Wie
es die Natur thut bei den animalischen Gestalten, die etwas Höheres sind
als die gewiß sehr reizvollen vegetabilischen, die nur Rhythmus, aber kein
Metrum haben, in denen nur Fortgang, aber kein Zurückgang in sich selbst,
keine Abgeschlossenheit ist, deren Gefühl nicht zu Verstände kommt, daß
Selbstanschauung, Vernunft daraus werden könnte.


M. H.

Leipzig, den 31. October 1865.


Lieber Wehner!

. . Daß Sie sich mit Rossini (in Paris) so gut befunden haben, freut
mich sehr und ich kann mirs denken. Der ist immer so rund und es ist bei
ihm immer geworden, was er machen wollte; da muß man sehr weit zurück¬
gehen, wenn man irgend etwas noch Unfertiges finden will. Sehr bald ist
dann alles wie gewachsen. Nach Geschriebenen klingt es nun gleich gar
nicht, oder es geht doch auf dem Wege durch den Schreibarm von der Un¬
mittelbarkeit des Gedankens nicht das Mindeste verloren. Was ists. auch
bei besseren deutschen Componisten. oft für eine Mühseligkeit, zu überwinden,
was sie hineingearbeitet haben. Man möchte, wenn sie so viele Wochen an
einer Composition zugebracht, ihnen so viel Monate noch zurathen, die Arbeit
wieder herauszuarbeiten, daß es wenigstens schiene, als wärs ihnen nicht
sauer geworden. Wo kommt bei Rossini wohl etwas vor, wo Factur zu
überwinden wär; und doch ist sie oft sehr bedeutend da — es ist aber dann
nicht Contrapunkt zu einem vautus örmus, nicht Hinzu- oder Entgegengesetztes,
sondern der Gegensatz selbst ist es, der als Eins hervorgegangen ist und in
der Einheit wirkt. In Webers Biographie kommt es recht viel vor, wie er


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/155>, abgerufen am 27.07.2024.