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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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dort die Gesundheit selbst poetisch krank gefaßt und dargestellt wird. In der
poetischen Literatur ist man darüber wohl gänzlich hinaus, in der Musik,
scheint mir, stecken wir gegenwärtig recht mitten darin. Wie man auf hohem
Berge eine Wolke kommen sieht, und wenn sie abgezogen, sie wieder als
Wolke erkennt, wenn sie uns umgibt aber nur einen feuchten Nebel fühlt, so
könnt' es vielleicht jetzt mit der Musik sein. Für den heutigen jungen Mu¬
siker gehört wohl eine enorme Energie dazu, dem Strome nicht zu folgen,
den solche Potenzen wie Berlioz und Wagner erregen; denn eine poetische
Kraft wird man diesen doch immer zugestehen müssen, wenn auch das Agens
für die Kunst mehr auflösender als fixirender Natur ist. Von den beiden
obengenannten wollen nun zwar viele unserer Kunstjünger selbst nichts wissen,
jene sollen nicht genannt werden, wenn man von den Bestrebungen dieser
spricht. Die Namen Berlioz und Wagner, der eine hauptsächlich für die
Instrumentalmusik, der andere für die Vocalmusik, drücken aber in einer con-
centrirten unverdünnten Essenz doch recht gut aus. was die Tendenz der
neueren Kunst ist. Diese ist aber eine gar zu sehr subjective und ist es um
so stärker, je mehr sie das Gegentheil zu sein sich einbildet. Es ist viel die
Rede von einer Ironie der Kunst; bei den Romantikern namentlich war das
Wort im Schwange. Bei Goethe und Schiller fehlt das Wort, aber die
Sache ist da, wenn man das Wort im rechten Sinn nimmt, in dem, wie
er der Kunst eine gesunde Eigenschaft ist. Die Ironie muß ein Negirendes
sein für das Negative, eine hebende Kraft für die niederdrückende Last der
Leidenschaft. Die Ironie ist das Gesetzliche für das Willkürliche, die Ein¬
heit für das Mannigfaltige, das Bestehende für das Vergehende, die metrische
Fassung für die rhythmische Vielgestaltigkeit, die vernünftige Nothwendigkeit
im scheinbar Zufälligen. Im Weltganzen, im physischen wie im moralischen
ist wohl alles Zufällige in einem Nothwendigen enthalten, aber eben nur im
Ganzen: Das Einzelne für sich kann immer als Zufälliges erscheinen, als
vergänglich und nichtig. Jedes Kunstwerk muß aber für sich ein Ganzes in
sich geschlossenes sein, das keine Zufälligkeiten zulassen kann, die würden auf
Etwas außer ihm denkendes soll aber aus sich selbst sich entwickeln, oder
doch so geworden erscheinen. Von Willkür oder Eigensinn des Künstlers
darf uns nichts entgegentreten, auch nicht ein originell oder apart sein
wollen. -- Aber es ist auch nicht hinreichend, daß Eins mit dem Andern
zusammenhänge in den Theilen des Ganzen, das Erste mit dem Zweiten,
das Zweite mit dem Dritten; auch das Erste und Zweite mit dem Zweiten
und Dritten, mithin auch das Erste mit dem Dritten will Zusammenhang
und Einheit haben. Das ist für das Innere, für das Aeußere aber noch
nicht genug. Wenn Einer sagt: "Gott steht das Herz" -- so sagt Schiller
darauf "Eben weil Gott nur das Herz sieht, so sorge dafür, daß auch wir


dort die Gesundheit selbst poetisch krank gefaßt und dargestellt wird. In der
poetischen Literatur ist man darüber wohl gänzlich hinaus, in der Musik,
scheint mir, stecken wir gegenwärtig recht mitten darin. Wie man auf hohem
Berge eine Wolke kommen sieht, und wenn sie abgezogen, sie wieder als
Wolke erkennt, wenn sie uns umgibt aber nur einen feuchten Nebel fühlt, so
könnt' es vielleicht jetzt mit der Musik sein. Für den heutigen jungen Mu¬
siker gehört wohl eine enorme Energie dazu, dem Strome nicht zu folgen,
den solche Potenzen wie Berlioz und Wagner erregen; denn eine poetische
Kraft wird man diesen doch immer zugestehen müssen, wenn auch das Agens
für die Kunst mehr auflösender als fixirender Natur ist. Von den beiden
obengenannten wollen nun zwar viele unserer Kunstjünger selbst nichts wissen,
jene sollen nicht genannt werden, wenn man von den Bestrebungen dieser
spricht. Die Namen Berlioz und Wagner, der eine hauptsächlich für die
Instrumentalmusik, der andere für die Vocalmusik, drücken aber in einer con-
centrirten unverdünnten Essenz doch recht gut aus. was die Tendenz der
neueren Kunst ist. Diese ist aber eine gar zu sehr subjective und ist es um
so stärker, je mehr sie das Gegentheil zu sein sich einbildet. Es ist viel die
Rede von einer Ironie der Kunst; bei den Romantikern namentlich war das
Wort im Schwange. Bei Goethe und Schiller fehlt das Wort, aber die
Sache ist da, wenn man das Wort im rechten Sinn nimmt, in dem, wie
er der Kunst eine gesunde Eigenschaft ist. Die Ironie muß ein Negirendes
sein für das Negative, eine hebende Kraft für die niederdrückende Last der
Leidenschaft. Die Ironie ist das Gesetzliche für das Willkürliche, die Ein¬
heit für das Mannigfaltige, das Bestehende für das Vergehende, die metrische
Fassung für die rhythmische Vielgestaltigkeit, die vernünftige Nothwendigkeit
im scheinbar Zufälligen. Im Weltganzen, im physischen wie im moralischen
ist wohl alles Zufällige in einem Nothwendigen enthalten, aber eben nur im
Ganzen: Das Einzelne für sich kann immer als Zufälliges erscheinen, als
vergänglich und nichtig. Jedes Kunstwerk muß aber für sich ein Ganzes in
sich geschlossenes sein, das keine Zufälligkeiten zulassen kann, die würden auf
Etwas außer ihm denkendes soll aber aus sich selbst sich entwickeln, oder
doch so geworden erscheinen. Von Willkür oder Eigensinn des Künstlers
darf uns nichts entgegentreten, auch nicht ein originell oder apart sein
wollen. — Aber es ist auch nicht hinreichend, daß Eins mit dem Andern
zusammenhänge in den Theilen des Ganzen, das Erste mit dem Zweiten,
das Zweite mit dem Dritten; auch das Erste und Zweite mit dem Zweiten
und Dritten, mithin auch das Erste mit dem Dritten will Zusammenhang
und Einheit haben. Das ist für das Innere, für das Aeußere aber noch
nicht genug. Wenn Einer sagt: „Gott steht das Herz" — so sagt Schiller
darauf „Eben weil Gott nur das Herz sieht, so sorge dafür, daß auch wir


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/154>, abgerufen am 01.09.2024.