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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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keit der Darstellung; spreche ich von Form, so denken sie an eine Schablone,
und ich meine doch nur eine gesetzliche Bildung, die immer eine unendliche
Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit sein kann. So ist Haydn mannigfal¬
tiger in den Formen wie Mozart; zuweilen mehr blüthenreiches Rankenge¬
wächs, da im Mozart immer Stamm und Zweige sich unterscheiden, aber
gestaltlos wird auch Haydn niemals. Das Unwahre kann oft einen Reiz
haben, der dem Wahren abgeht, das sich mit der schlichten Schönheit be¬
gnügen muß; diese, selbst ein harmonischer Zusammenklang, klingt auch nur
in harmonisch gebildetem Sinne an. Der Reiz, der im Unvermittelten besteht,
findet leichter Anklang, er spricht zu den Sinnen. In der Musik sind es die
sogenannten "schönen Stellen;" -- Don Juan hat keine solchen. Aber doch
auch wieder können schöne Stellen eine Musik aus die Dauer nicht halten.
Als Einzelnes sind sie für's Einzelne und haben im Ganzen keine Bedeutung.
-- Was Semper mit seinen Gedanken meint, den er architektonisch verkörpern
will, verstehe ich nicht. Ich erinnere mich eines architektonischen Werkes
von I.s poux, das Ihnen jedenfalls bekannt ist -- la vitis Ah OKaux. --
Da kommen solche Gedankenverkörperungen vor. Die Wohnung des Fa߬
binders war wie ein Faß geformt, mit Reifen. Gott sei Dank, daß solche
Verkörperungen auf dem Papier bleiben, nicht gebaut werden. Was von
Ik poux ausgeführt war, ich glaube Barriören-Häuser, war dagegen sehr ge¬
wöhnlich und prosaisch. -- Möchte doch einmal eine Architekten-Versammlung
in Leipzig stattfinden; weniger wäre es mir hier um den Ideenaustausch
als daß wir Sie einmal nicht aus Stunden, sondern auf Tage herbekämen.


M. H.
An Cap ellmeister Wehner in Hannover.

Leipzig, 1857.

.. Für mich hat die neue Kunst etwas sehr unfreies, beängstigendes, wenig¬
stens beengendes, wie die Poesie der Romantiker; der des ersten Viertels
unseres Jahrhunderts nämlich, denn die Romantik des Mittelalters ist so
frei und gesund wie die Antike. Die Krankheit hinter den scheinbar blühen¬
den Wangen der Poesie jener Zeit hat sich vollauf bestätigt. Goethe war
da in voller Kraft und Schönheit, als die blaue Blume Novalis, schwind¬
süchtig reizenden Ansehens aufging und alle Blicke auf sich von dem Ge¬
sunden ablenkte, wie eine neu entdeckte, aus ächtem Reich der Poesie herze-
kommene Victoria re^la. Wie bald aber ist die abgeblüht, ohne Frucht
angesetzt zu haben, wie sie nicht aus gesundem Keim gewachsen war: und
jener Baum steht noch lebenskräftig, unverkümmert da und treibt fort und
fort neue Zweige. Auch die Krankheit Werther's ist gesunde Poesie, während


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keit der Darstellung; spreche ich von Form, so denken sie an eine Schablone,
und ich meine doch nur eine gesetzliche Bildung, die immer eine unendliche
Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit sein kann. So ist Haydn mannigfal¬
tiger in den Formen wie Mozart; zuweilen mehr blüthenreiches Rankenge¬
wächs, da im Mozart immer Stamm und Zweige sich unterscheiden, aber
gestaltlos wird auch Haydn niemals. Das Unwahre kann oft einen Reiz
haben, der dem Wahren abgeht, das sich mit der schlichten Schönheit be¬
gnügen muß; diese, selbst ein harmonischer Zusammenklang, klingt auch nur
in harmonisch gebildetem Sinne an. Der Reiz, der im Unvermittelten besteht,
findet leichter Anklang, er spricht zu den Sinnen. In der Musik sind es die
sogenannten „schönen Stellen;" — Don Juan hat keine solchen. Aber doch
auch wieder können schöne Stellen eine Musik aus die Dauer nicht halten.
Als Einzelnes sind sie für's Einzelne und haben im Ganzen keine Bedeutung.
— Was Semper mit seinen Gedanken meint, den er architektonisch verkörpern
will, verstehe ich nicht. Ich erinnere mich eines architektonischen Werkes
von I.s poux, das Ihnen jedenfalls bekannt ist — la vitis Ah OKaux. —
Da kommen solche Gedankenverkörperungen vor. Die Wohnung des Fa߬
binders war wie ein Faß geformt, mit Reifen. Gott sei Dank, daß solche
Verkörperungen auf dem Papier bleiben, nicht gebaut werden. Was von
Ik poux ausgeführt war, ich glaube Barriören-Häuser, war dagegen sehr ge¬
wöhnlich und prosaisch. — Möchte doch einmal eine Architekten-Versammlung
in Leipzig stattfinden; weniger wäre es mir hier um den Ideenaustausch
als daß wir Sie einmal nicht aus Stunden, sondern auf Tage herbekämen.


M. H.
An Cap ellmeister Wehner in Hannover.

Leipzig, 1857.

.. Für mich hat die neue Kunst etwas sehr unfreies, beängstigendes, wenig¬
stens beengendes, wie die Poesie der Romantiker; der des ersten Viertels
unseres Jahrhunderts nämlich, denn die Romantik des Mittelalters ist so
frei und gesund wie die Antike. Die Krankheit hinter den scheinbar blühen¬
den Wangen der Poesie jener Zeit hat sich vollauf bestätigt. Goethe war
da in voller Kraft und Schönheit, als die blaue Blume Novalis, schwind¬
süchtig reizenden Ansehens aufging und alle Blicke auf sich von dem Ge¬
sunden ablenkte, wie eine neu entdeckte, aus ächtem Reich der Poesie herze-
kommene Victoria re^la. Wie bald aber ist die abgeblüht, ohne Frucht
angesetzt zu haben, wie sie nicht aus gesundem Keim gewachsen war: und
jener Baum steht noch lebenskräftig, unverkümmert da und treibt fort und
fort neue Zweige. Auch die Krankheit Werther's ist gesunde Poesie, während


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[0153] keit der Darstellung; spreche ich von Form, so denken sie an eine Schablone, und ich meine doch nur eine gesetzliche Bildung, die immer eine unendliche Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit sein kann. So ist Haydn mannigfal¬ tiger in den Formen wie Mozart; zuweilen mehr blüthenreiches Rankenge¬ wächs, da im Mozart immer Stamm und Zweige sich unterscheiden, aber gestaltlos wird auch Haydn niemals. Das Unwahre kann oft einen Reiz haben, der dem Wahren abgeht, das sich mit der schlichten Schönheit be¬ gnügen muß; diese, selbst ein harmonischer Zusammenklang, klingt auch nur in harmonisch gebildetem Sinne an. Der Reiz, der im Unvermittelten besteht, findet leichter Anklang, er spricht zu den Sinnen. In der Musik sind es die sogenannten „schönen Stellen;" — Don Juan hat keine solchen. Aber doch auch wieder können schöne Stellen eine Musik aus die Dauer nicht halten. Als Einzelnes sind sie für's Einzelne und haben im Ganzen keine Bedeutung. — Was Semper mit seinen Gedanken meint, den er architektonisch verkörpern will, verstehe ich nicht. Ich erinnere mich eines architektonischen Werkes von I.s poux, das Ihnen jedenfalls bekannt ist — la vitis Ah OKaux. — Da kommen solche Gedankenverkörperungen vor. Die Wohnung des Fa߬ binders war wie ein Faß geformt, mit Reifen. Gott sei Dank, daß solche Verkörperungen auf dem Papier bleiben, nicht gebaut werden. Was von Ik poux ausgeführt war, ich glaube Barriören-Häuser, war dagegen sehr ge¬ wöhnlich und prosaisch. — Möchte doch einmal eine Architekten-Versammlung in Leipzig stattfinden; weniger wäre es mir hier um den Ideenaustausch als daß wir Sie einmal nicht aus Stunden, sondern auf Tage herbekämen. M. H. An Cap ellmeister Wehner in Hannover. Leipzig, 1857. .. Für mich hat die neue Kunst etwas sehr unfreies, beängstigendes, wenig¬ stens beengendes, wie die Poesie der Romantiker; der des ersten Viertels unseres Jahrhunderts nämlich, denn die Romantik des Mittelalters ist so frei und gesund wie die Antike. Die Krankheit hinter den scheinbar blühen¬ den Wangen der Poesie jener Zeit hat sich vollauf bestätigt. Goethe war da in voller Kraft und Schönheit, als die blaue Blume Novalis, schwind¬ süchtig reizenden Ansehens aufging und alle Blicke auf sich von dem Ge¬ sunden ablenkte, wie eine neu entdeckte, aus ächtem Reich der Poesie herze- kommene Victoria re^la. Wie bald aber ist die abgeblüht, ohne Frucht angesetzt zu haben, wie sie nicht aus gesundem Keim gewachsen war: und jener Baum steht noch lebenskräftig, unverkümmert da und treibt fort und fort neue Zweige. Auch die Krankheit Werther's ist gesunde Poesie, während 19*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/153>, abgerufen am 01.09.2024.