Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Continents geworden, mit einer sehr eigenthümlichen ^Entwickelung der In¬
dustrie schon jetzt für den geschäftlichen und geistigen Verkehr weiter Land¬
strecken die Gebieterin, welche durch ihre Presse, ihre Börse, ihre Wissenschaft
und ihre Kunstindustrie unvergleichlich größere Einwirkung von Trieft bis zu
den Donaumündungen ausübt, als in dem Jahre, in welchem die Serezaner
des Fürsten Windischgrätz durch das rothe Thurmthor drangen. Und serner,
kein Staat der Welt hat größere Ausgaben gemacht als Oesterreich für seine
wichtigsten Culturzwecke, seine Eisenbahnen schaffen jetzt die Waaren Italiens
über die Alpen, die Bodenerzeugnisse des entfernten Ostens an französische
und englische Käufer, seine Dampferlinien vermitteln den größten Theil des
Verkehrs im hintern Mittelmeer. Die Schlagbäume zwischen den einzelnen
Reichstheilen sind gefallen. Durch einheitliches Zollsystem an den Staats¬
grenzen, durch eine früher unbekannte Freizügigkeit wird eine Leichtigkeit der
Bewegung und eine Leichtigkeit lohnenden Verdienstes hervorgebracht, welche
Hunderttausenden die schlummernde Thatkraft geweckt hat. Unläugbar lassen
Handel und Industrie Oestreichs noch oft die Solidität und geschäftliche
Redlichkeit vermissen, welche wir zu fordern gewöhnt sind, aber eben so
unläugbar ist, daß der Aufschwung des Staates nach dieser Richtung in zwei
Jahrzehnten fast wunderbar groß und energisch war.

Noch sind die Finanzen übel geordnet, aber die Staatseinnahmen haben
sich doch mächtig gehoben, der harte Steuerdruck wird weniger empfunden
als vor 10 Jahren, und es scheint nicht unwahrscheinlich, daß der Staat
in einigen Jahren sich zu einem regelmäßigen Gleichgewicht zwischen Ein¬
nahme und Ausgabe erheben wird. Ueber den gegenwärtigen Zustand des
kaiserlichen Heeres wagen wir kein Urtheil, wir neigen uns zu der Annahme,
daß die Erfahrungen des letzten Krieges nicht mit der nöthigen Energie benutzt
worden sind, aber die große Mehrzahl der Truppen hat sich im Jahr 1866
gegen den überlegenen deutschen Gegner tapfer geschlagen und es ist kein
Grund zu zweifeln, daß das Heer, richtig geführt, auch bei einem neuen
Kriege völlig seine Pflicht thun wird und daß es, geschickt benutzt, auch im
Innern gegen Aufstandsversuche getreu der Staatsidee dienen wird. Endlich
wird Keiner unserer Freunde leugnen, daß auch die Volkserziehung und die
politische Bildung in Oestreich seither sehr achtungswerthe Fortschritte ge¬
macht haben; die Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche, Beschränkung
der Pfaffenherrschaft, neue Organisation höherer Lehranstalten, Reform
des deutschen Gerichtswesens, Theilnahme und Verständniß des Volkes für
die größten Staatsfragen sind im Ganzen ein zweifelloser starker Gewinn,
wenn auch nicht im gleichen Maße für alle Provinzen und wenn auch die
Ungleichheit dieses Fortschritts so groß ist, daß sein Segen für das Ganze
durch Rückschritte einzelner Landestheile beschränkt wird. Für die Steige-


Continents geworden, mit einer sehr eigenthümlichen ^Entwickelung der In¬
dustrie schon jetzt für den geschäftlichen und geistigen Verkehr weiter Land¬
strecken die Gebieterin, welche durch ihre Presse, ihre Börse, ihre Wissenschaft
und ihre Kunstindustrie unvergleichlich größere Einwirkung von Trieft bis zu
den Donaumündungen ausübt, als in dem Jahre, in welchem die Serezaner
des Fürsten Windischgrätz durch das rothe Thurmthor drangen. Und serner,
kein Staat der Welt hat größere Ausgaben gemacht als Oesterreich für seine
wichtigsten Culturzwecke, seine Eisenbahnen schaffen jetzt die Waaren Italiens
über die Alpen, die Bodenerzeugnisse des entfernten Ostens an französische
und englische Käufer, seine Dampferlinien vermitteln den größten Theil des
Verkehrs im hintern Mittelmeer. Die Schlagbäume zwischen den einzelnen
Reichstheilen sind gefallen. Durch einheitliches Zollsystem an den Staats¬
grenzen, durch eine früher unbekannte Freizügigkeit wird eine Leichtigkeit der
Bewegung und eine Leichtigkeit lohnenden Verdienstes hervorgebracht, welche
Hunderttausenden die schlummernde Thatkraft geweckt hat. Unläugbar lassen
Handel und Industrie Oestreichs noch oft die Solidität und geschäftliche
Redlichkeit vermissen, welche wir zu fordern gewöhnt sind, aber eben so
unläugbar ist, daß der Aufschwung des Staates nach dieser Richtung in zwei
Jahrzehnten fast wunderbar groß und energisch war.

Noch sind die Finanzen übel geordnet, aber die Staatseinnahmen haben
sich doch mächtig gehoben, der harte Steuerdruck wird weniger empfunden
als vor 10 Jahren, und es scheint nicht unwahrscheinlich, daß der Staat
in einigen Jahren sich zu einem regelmäßigen Gleichgewicht zwischen Ein¬
nahme und Ausgabe erheben wird. Ueber den gegenwärtigen Zustand des
kaiserlichen Heeres wagen wir kein Urtheil, wir neigen uns zu der Annahme,
daß die Erfahrungen des letzten Krieges nicht mit der nöthigen Energie benutzt
worden sind, aber die große Mehrzahl der Truppen hat sich im Jahr 1866
gegen den überlegenen deutschen Gegner tapfer geschlagen und es ist kein
Grund zu zweifeln, daß das Heer, richtig geführt, auch bei einem neuen
Kriege völlig seine Pflicht thun wird und daß es, geschickt benutzt, auch im
Innern gegen Aufstandsversuche getreu der Staatsidee dienen wird. Endlich
wird Keiner unserer Freunde leugnen, daß auch die Volkserziehung und die
politische Bildung in Oestreich seither sehr achtungswerthe Fortschritte ge¬
macht haben; die Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche, Beschränkung
der Pfaffenherrschaft, neue Organisation höherer Lehranstalten, Reform
des deutschen Gerichtswesens, Theilnahme und Verständniß des Volkes für
die größten Staatsfragen sind im Ganzen ein zweifelloser starker Gewinn,
wenn auch nicht im gleichen Maße für alle Provinzen und wenn auch die
Ungleichheit dieses Fortschritts so groß ist, daß sein Segen für das Ganze
durch Rückschritte einzelner Landestheile beschränkt wird. Für die Steige-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0128" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/123748"/>
          <p xml:id="ID_391" prev="#ID_390"> Continents geworden, mit einer sehr eigenthümlichen ^Entwickelung der In¬<lb/>
dustrie schon jetzt für den geschäftlichen und geistigen Verkehr weiter Land¬<lb/>
strecken die Gebieterin, welche durch ihre Presse, ihre Börse, ihre Wissenschaft<lb/>
und ihre Kunstindustrie unvergleichlich größere Einwirkung von Trieft bis zu<lb/>
den Donaumündungen ausübt, als in dem Jahre, in welchem die Serezaner<lb/>
des Fürsten Windischgrätz durch das rothe Thurmthor drangen. Und serner,<lb/>
kein Staat der Welt hat größere Ausgaben gemacht als Oesterreich für seine<lb/>
wichtigsten Culturzwecke, seine Eisenbahnen schaffen jetzt die Waaren Italiens<lb/>
über die Alpen, die Bodenerzeugnisse des entfernten Ostens an französische<lb/>
und englische Käufer, seine Dampferlinien vermitteln den größten Theil des<lb/>
Verkehrs im hintern Mittelmeer. Die Schlagbäume zwischen den einzelnen<lb/>
Reichstheilen sind gefallen. Durch einheitliches Zollsystem an den Staats¬<lb/>
grenzen, durch eine früher unbekannte Freizügigkeit wird eine Leichtigkeit der<lb/>
Bewegung und eine Leichtigkeit lohnenden Verdienstes hervorgebracht, welche<lb/>
Hunderttausenden die schlummernde Thatkraft geweckt hat. Unläugbar lassen<lb/>
Handel und Industrie Oestreichs noch oft die Solidität und geschäftliche<lb/>
Redlichkeit vermissen, welche wir zu fordern gewöhnt sind, aber eben so<lb/>
unläugbar ist, daß der Aufschwung des Staates nach dieser Richtung in zwei<lb/>
Jahrzehnten fast wunderbar groß und energisch war.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_392" next="#ID_393"> Noch sind die Finanzen übel geordnet, aber die Staatseinnahmen haben<lb/>
sich doch mächtig gehoben, der harte Steuerdruck wird weniger empfunden<lb/>
als vor 10 Jahren, und es scheint nicht unwahrscheinlich, daß der Staat<lb/>
in einigen Jahren sich zu einem regelmäßigen Gleichgewicht zwischen Ein¬<lb/>
nahme und Ausgabe erheben wird. Ueber den gegenwärtigen Zustand des<lb/>
kaiserlichen Heeres wagen wir kein Urtheil, wir neigen uns zu der Annahme,<lb/>
daß die Erfahrungen des letzten Krieges nicht mit der nöthigen Energie benutzt<lb/>
worden sind, aber die große Mehrzahl der Truppen hat sich im Jahr 1866<lb/>
gegen den überlegenen deutschen Gegner tapfer geschlagen und es ist kein<lb/>
Grund zu zweifeln, daß das Heer, richtig geführt, auch bei einem neuen<lb/>
Kriege völlig seine Pflicht thun wird und daß es, geschickt benutzt, auch im<lb/>
Innern gegen Aufstandsversuche getreu der Staatsidee dienen wird. Endlich<lb/>
wird Keiner unserer Freunde leugnen, daß auch die Volkserziehung und die<lb/>
politische Bildung in Oestreich seither sehr achtungswerthe Fortschritte ge¬<lb/>
macht haben; die Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche, Beschränkung<lb/>
der Pfaffenherrschaft, neue Organisation höherer Lehranstalten, Reform<lb/>
des deutschen Gerichtswesens, Theilnahme und Verständniß des Volkes für<lb/>
die größten Staatsfragen sind im Ganzen ein zweifelloser starker Gewinn,<lb/>
wenn auch nicht im gleichen Maße für alle Provinzen und wenn auch die<lb/>
Ungleichheit dieses Fortschritts so groß ist, daß sein Segen für das Ganze<lb/>
durch Rückschritte einzelner Landestheile beschränkt wird.  Für die Steige-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0128] Continents geworden, mit einer sehr eigenthümlichen ^Entwickelung der In¬ dustrie schon jetzt für den geschäftlichen und geistigen Verkehr weiter Land¬ strecken die Gebieterin, welche durch ihre Presse, ihre Börse, ihre Wissenschaft und ihre Kunstindustrie unvergleichlich größere Einwirkung von Trieft bis zu den Donaumündungen ausübt, als in dem Jahre, in welchem die Serezaner des Fürsten Windischgrätz durch das rothe Thurmthor drangen. Und serner, kein Staat der Welt hat größere Ausgaben gemacht als Oesterreich für seine wichtigsten Culturzwecke, seine Eisenbahnen schaffen jetzt die Waaren Italiens über die Alpen, die Bodenerzeugnisse des entfernten Ostens an französische und englische Käufer, seine Dampferlinien vermitteln den größten Theil des Verkehrs im hintern Mittelmeer. Die Schlagbäume zwischen den einzelnen Reichstheilen sind gefallen. Durch einheitliches Zollsystem an den Staats¬ grenzen, durch eine früher unbekannte Freizügigkeit wird eine Leichtigkeit der Bewegung und eine Leichtigkeit lohnenden Verdienstes hervorgebracht, welche Hunderttausenden die schlummernde Thatkraft geweckt hat. Unläugbar lassen Handel und Industrie Oestreichs noch oft die Solidität und geschäftliche Redlichkeit vermissen, welche wir zu fordern gewöhnt sind, aber eben so unläugbar ist, daß der Aufschwung des Staates nach dieser Richtung in zwei Jahrzehnten fast wunderbar groß und energisch war. Noch sind die Finanzen übel geordnet, aber die Staatseinnahmen haben sich doch mächtig gehoben, der harte Steuerdruck wird weniger empfunden als vor 10 Jahren, und es scheint nicht unwahrscheinlich, daß der Staat in einigen Jahren sich zu einem regelmäßigen Gleichgewicht zwischen Ein¬ nahme und Ausgabe erheben wird. Ueber den gegenwärtigen Zustand des kaiserlichen Heeres wagen wir kein Urtheil, wir neigen uns zu der Annahme, daß die Erfahrungen des letzten Krieges nicht mit der nöthigen Energie benutzt worden sind, aber die große Mehrzahl der Truppen hat sich im Jahr 1866 gegen den überlegenen deutschen Gegner tapfer geschlagen und es ist kein Grund zu zweifeln, daß das Heer, richtig geführt, auch bei einem neuen Kriege völlig seine Pflicht thun wird und daß es, geschickt benutzt, auch im Innern gegen Aufstandsversuche getreu der Staatsidee dienen wird. Endlich wird Keiner unserer Freunde leugnen, daß auch die Volkserziehung und die politische Bildung in Oestreich seither sehr achtungswerthe Fortschritte ge¬ macht haben; die Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche, Beschränkung der Pfaffenherrschaft, neue Organisation höherer Lehranstalten, Reform des deutschen Gerichtswesens, Theilnahme und Verständniß des Volkes für die größten Staatsfragen sind im Ganzen ein zweifelloser starker Gewinn, wenn auch nicht im gleichen Maße für alle Provinzen und wenn auch die Ungleichheit dieses Fortschritts so groß ist, daß sein Segen für das Ganze durch Rückschritte einzelner Landestheile beschränkt wird. Für die Steige-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/128
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/128>, abgerufen am 18.12.2024.