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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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nationalen Mächte und Stimmungen, ohne sie rein und klar zu schildern, in
desto wunderbarerer Unmittelbarkeit wieder.

In diesem Sinne mag man ihn vor Allen einen Tagesschriftsteller in
des Wortes bester Bedeutung nennen, in diesem Sinne darf er auch neben
solche gestellt werden, welche in anderem freilich größer waren als er, neben
Walther von der Vogelweide oder Hütten. Es liegt auf der Hand, daß
solche Erscheinungen gar nicht verstanden werden können, ohne die Rücksicht
auf ihre Zeit. Ihre Bedeutung beginnt mit dem Moment, wo sie so wirk¬
lich ganz von derselben ergriffen und bedingt werden, d. h. für Arndt mit
dem Jahre 1805, in das die unmittelbar historischen Eindrücke des "Geistes
der Zeit" fallen.

So werde ich allerdings durch den Gang dieser Betrachtung in die
Nothwendigkeit gedrängt, die geistige Atmosphäre des damaligen Deutschland
wenigstens mit einigen Andeutungen hier vorzuführen.

Der eigenthümliche Gang unserer ganzen inneren Entwickelung, wenn
wir sie mit der anderer Nationen vergleichen, gewinnt namentlich durch einen
Punkt ein helleres Licht, der die äußere Gestaltung unseres Volkslebens von
der der Nachbarvölker unterscheidet. Die politische und literärische Bildung
derselben im 17. und 18. Jahrhundert beruht wesentlich auf der Wechsel¬
wirkung jener großen städtischen Mittelpunkte, Paris, London, Amsterdam,
Kopenhagen und einer großen, in sich zusammenhängenden Aristokratie. Wie
verschieden auch die politische und gesellschaftliche Lage dieser letzteren sich
hier oder dort gestaltet hatte, aus ihrer Berührung mit den Elementen
eines großstädtischen selbstbewußten und thatkräftigen Bürgerthums entsprang
alles Beachtenswerthe in Kunst, Literatur und Politik.

Diese Mittelpunkte fehlten Deutschland keineswegs, die größten städti¬
schen Gemeinwesen unserer früheren Jahrhunderte waren wie mit unwider¬
stehlicher Naturgewalt da aufgeblüht, wo die Forderungen des Verkehrs sie
schaffen mußten, aber aus welchen Gründen immer, sie standen still und verloren
den Muth der großen Geschäfte, während Paris, London und sogar Kopen¬
hagen nicht allein an dem politischen Leben, sondern mehr noch an der poli¬
tisch-literärischen Entwickelung ihrer Nation sich maßgebend betheiligten.

Ich will nur auf diesen einen Umstund hindeuten, um zweierlei zu er¬
klären: die, man möchte sagen, naive Frische unserer schönen Literatur -- sie
erwuchs nicht in der dunstgeschwängerten Luft einer großstädtischen Gesell¬
schaft -- und die unselige Kleinlichkeit und Zerfahrenheit der politischen, denn
sie entbehrte jener für sie fast Unentbehrlichen Atmosphäre.

Es wird selten in der literärischen Geschichte eines Volkes eine
solche Periode sonnenheller Tage geben, wie das mittlere Drittheil unseres
vorigen Jahrhunderts. In Goethe's Wahrheit und Dichtung weht uns die


nationalen Mächte und Stimmungen, ohne sie rein und klar zu schildern, in
desto wunderbarerer Unmittelbarkeit wieder.

In diesem Sinne mag man ihn vor Allen einen Tagesschriftsteller in
des Wortes bester Bedeutung nennen, in diesem Sinne darf er auch neben
solche gestellt werden, welche in anderem freilich größer waren als er, neben
Walther von der Vogelweide oder Hütten. Es liegt auf der Hand, daß
solche Erscheinungen gar nicht verstanden werden können, ohne die Rücksicht
auf ihre Zeit. Ihre Bedeutung beginnt mit dem Moment, wo sie so wirk¬
lich ganz von derselben ergriffen und bedingt werden, d. h. für Arndt mit
dem Jahre 1805, in das die unmittelbar historischen Eindrücke des „Geistes
der Zeit" fallen.

So werde ich allerdings durch den Gang dieser Betrachtung in die
Nothwendigkeit gedrängt, die geistige Atmosphäre des damaligen Deutschland
wenigstens mit einigen Andeutungen hier vorzuführen.

Der eigenthümliche Gang unserer ganzen inneren Entwickelung, wenn
wir sie mit der anderer Nationen vergleichen, gewinnt namentlich durch einen
Punkt ein helleres Licht, der die äußere Gestaltung unseres Volkslebens von
der der Nachbarvölker unterscheidet. Die politische und literärische Bildung
derselben im 17. und 18. Jahrhundert beruht wesentlich auf der Wechsel¬
wirkung jener großen städtischen Mittelpunkte, Paris, London, Amsterdam,
Kopenhagen und einer großen, in sich zusammenhängenden Aristokratie. Wie
verschieden auch die politische und gesellschaftliche Lage dieser letzteren sich
hier oder dort gestaltet hatte, aus ihrer Berührung mit den Elementen
eines großstädtischen selbstbewußten und thatkräftigen Bürgerthums entsprang
alles Beachtenswerthe in Kunst, Literatur und Politik.

Diese Mittelpunkte fehlten Deutschland keineswegs, die größten städti¬
schen Gemeinwesen unserer früheren Jahrhunderte waren wie mit unwider¬
stehlicher Naturgewalt da aufgeblüht, wo die Forderungen des Verkehrs sie
schaffen mußten, aber aus welchen Gründen immer, sie standen still und verloren
den Muth der großen Geschäfte, während Paris, London und sogar Kopen¬
hagen nicht allein an dem politischen Leben, sondern mehr noch an der poli¬
tisch-literärischen Entwickelung ihrer Nation sich maßgebend betheiligten.

Ich will nur auf diesen einen Umstund hindeuten, um zweierlei zu er¬
klären: die, man möchte sagen, naive Frische unserer schönen Literatur — sie
erwuchs nicht in der dunstgeschwängerten Luft einer großstädtischen Gesell¬
schaft — und die unselige Kleinlichkeit und Zerfahrenheit der politischen, denn
sie entbehrte jener für sie fast Unentbehrlichen Atmosphäre.

Es wird selten in der literärischen Geschichte eines Volkes eine
solche Periode sonnenheller Tage geben, wie das mittlere Drittheil unseres
vorigen Jahrhunderts. In Goethe's Wahrheit und Dichtung weht uns die


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[0368] nationalen Mächte und Stimmungen, ohne sie rein und klar zu schildern, in desto wunderbarerer Unmittelbarkeit wieder. In diesem Sinne mag man ihn vor Allen einen Tagesschriftsteller in des Wortes bester Bedeutung nennen, in diesem Sinne darf er auch neben solche gestellt werden, welche in anderem freilich größer waren als er, neben Walther von der Vogelweide oder Hütten. Es liegt auf der Hand, daß solche Erscheinungen gar nicht verstanden werden können, ohne die Rücksicht auf ihre Zeit. Ihre Bedeutung beginnt mit dem Moment, wo sie so wirk¬ lich ganz von derselben ergriffen und bedingt werden, d. h. für Arndt mit dem Jahre 1805, in das die unmittelbar historischen Eindrücke des „Geistes der Zeit" fallen. So werde ich allerdings durch den Gang dieser Betrachtung in die Nothwendigkeit gedrängt, die geistige Atmosphäre des damaligen Deutschland wenigstens mit einigen Andeutungen hier vorzuführen. Der eigenthümliche Gang unserer ganzen inneren Entwickelung, wenn wir sie mit der anderer Nationen vergleichen, gewinnt namentlich durch einen Punkt ein helleres Licht, der die äußere Gestaltung unseres Volkslebens von der der Nachbarvölker unterscheidet. Die politische und literärische Bildung derselben im 17. und 18. Jahrhundert beruht wesentlich auf der Wechsel¬ wirkung jener großen städtischen Mittelpunkte, Paris, London, Amsterdam, Kopenhagen und einer großen, in sich zusammenhängenden Aristokratie. Wie verschieden auch die politische und gesellschaftliche Lage dieser letzteren sich hier oder dort gestaltet hatte, aus ihrer Berührung mit den Elementen eines großstädtischen selbstbewußten und thatkräftigen Bürgerthums entsprang alles Beachtenswerthe in Kunst, Literatur und Politik. Diese Mittelpunkte fehlten Deutschland keineswegs, die größten städti¬ schen Gemeinwesen unserer früheren Jahrhunderte waren wie mit unwider¬ stehlicher Naturgewalt da aufgeblüht, wo die Forderungen des Verkehrs sie schaffen mußten, aber aus welchen Gründen immer, sie standen still und verloren den Muth der großen Geschäfte, während Paris, London und sogar Kopen¬ hagen nicht allein an dem politischen Leben, sondern mehr noch an der poli¬ tisch-literärischen Entwickelung ihrer Nation sich maßgebend betheiligten. Ich will nur auf diesen einen Umstund hindeuten, um zweierlei zu er¬ klären: die, man möchte sagen, naive Frische unserer schönen Literatur — sie erwuchs nicht in der dunstgeschwängerten Luft einer großstädtischen Gesell¬ schaft — und die unselige Kleinlichkeit und Zerfahrenheit der politischen, denn sie entbehrte jener für sie fast Unentbehrlichen Atmosphäre. Es wird selten in der literärischen Geschichte eines Volkes eine solche Periode sonnenheller Tage geben, wie das mittlere Drittheil unseres vorigen Jahrhunderts. In Goethe's Wahrheit und Dichtung weht uns die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/368>, abgerufen am 15.01.2025.